Eine Befragung von Zeitzeugen zu den Anfängen der Angehörigenbewegung

Sabine Hummitzsch (2002)

Diplomarbeit im Studiengang Sozialwesen an der Fachhochschule Wiesbaden

3.6 Interview Susanne Heim, Köln, S. 115-132

3.6.1 Vorstellung der Person

Susanne Heim wurde am 9. Mai 1937 in Karlsruhe geboren. Sie ist von Beruf Redakteurin, aber durch eine depressive Erkrankung seit vielen Jahren EU-Rentnerin. Sie ist Angehörige eines psychisch kranken Sohnes.

Ich besuchte Susanne Heim in ihrer Kölner Wohnung am 2. März. Unser Interview dauerte fünf Stunden. Ich hatte inzwischen schon viel von ihr gehört und schon so manches von der Kölner Angehörigenarbeit erfahren. Dort, so wurde mir erzählt, gebe es eine florierende, vielfältige Angehörigenarbeit.

Susanne Heim ist Mitbegründerin und langjähriges Vorstandsmitglied des Kölner Angehörigenvereins „Rat und Tat e.V. Köln“. Sie führt seit Jahren Fortbildungen im Angehörigenbereich durch, z.B. für den nordrhein-westfälischen Landschaftsverband, der dort professionelle Mitarbeiter hinschickt, damit sie etwas über Angehörige lernen.

Susanne Heim hat seit den Anfängen der Angehörigenbewegung immer wieder Artikel veröffentlich, Beiträge in verschiedenen Publikationen geschrieben, an Tagungen teilgenommen. Regelmäßig finden sich ihre Artikel u.a. auch in der Psychosozialen Umschau wieder.

Unter Angehörigen berühmt ist wohl inzwischen der sogenannte Briefwechsel zwischen ihr und Klaus Dömer im „Freispruch der Familie“ (Dömer, Heim, 1992). Im Buch „Wenn nichts mehr ist, wie es war – Angehörige psychisch Kranker bewältigen ihr Leben“ schildert Susanne Heim den Weg von „Rat und Tat e.V.“ in Köln: „Nur nicht bange machen lassen – Portrait einer erfolgreichen Angehörigeninitiative“ heißt hier ihr Beitrag (Heim, 1994). Gerade im vergangenen Jahr erschien das Nachfolgebuch von ,Jetzt will ich’s wissen‘: „Mit psychisch Kranken leben – Rat und Hilfe für Angehörige“, herausgegeben vom BApK. Darin schreibt Susanne Heim unter anderem zum Thema: „Unermüdlich und allzeit bereit – Wie hilfreich sind selbstlose Angehörige?“ (Heim, 2001)

Als ich sie in Köln besuchte, kam Susanne Heim gerade von einer Tagung aus Berlin zurück. Der Zufall hatte es gewollt, dass ich sie als letzte meiner Gesprächspartner aufsuchte. Im Nachhinein sehe ich, dass dies ein sehr guter Zeitpunkt war. Fast war dieses letzte Interview für mich ein kontemplatives Gespräch. Durch meine vorhergegangenen Befragungen hatte ich schon sehr vieles erfahren. Durch die verschiedenen Erzählungen hatte sich ein Bild in meiner Phantasie gefügt. Bei Susanne Heim in Köln schloss sich für mich der Kreis meiner aufsuchenden Reise zu den Angehörigen.

Das folgende Interview befasst sich intensiv mit dem Innenverhältnis zwischen dem seelisch erkrankten Menschen und seinen Angehörigen. In den Auszügen des Interviews wird es natürlich auch um die Anfänge der Angehörigenbewegung gehen; im Vordergrund stehen aber die Wechselwirkungen innerhalb der Familien und die leidvollen Prozesse, die Angehörige durchlaufen, bis sie sich selber wirksam helfen können.

3.6.2 Auszüge des Interviews

Heim: Das ist wichtig, dass man sich als Profi in der sozialen Arbeit immer auch der eigenen Betroffenheit bewusst wird. Ich mache ja auch viele Fortbildungen und da erleb ich es immer wieder, dass da Leute sind, z.B. bei den Pflichtfortbildungen vom Landschaftsverband, die sind schon länger im Beruf und schimpfen nur noch über die Angehörigen. Und lassen kein gutes Haar an ihnen. Und meistens steckt was dahinter. Da bin ich immer sehr dran zu sagen:
Man muss wirklich erst mal mit seinen eigenen Problemen, vielleicht nicht fertig sein damit, aber man muss wissen, wo man steht. Nicht es einfach unbewusst z.B. an den Angehörigen abarbeiten.

Ich kenne keine Kinder, die nicht irgendwann mal Zoff mit ihren Eltern hatten. Und ich kenne keine Eltern, die ihre Pens (Kinder) nicht irgendwann mal am liebsten auf den Mond schießen wollten. Aber genau das ist der Punkt, warum dann so viele Schuldgefühle kommen. Wenn nachher was passiert.

Und vor allem das Gefühl, ich weiß es von mir, weil ich ein unehelich geborenes Kind bin, meine Schwester auch, das war zu unserer Zeit schlimm. Und wir haben in der Kleinstadt gelebt. Solange ich mich selber noch als Makel empfunden habe, hab ich mich immer schuldig gefühlt – für das schlimme Leben, das meine Mutter dann hatte, so Phantasien. Meine Schwester war da raffinierter. Sie hat immer, wenn sie nach ihrem Vater gefragt worden ist, gesagt: „Nee, ich hab keinen Vater, der ist tot.“

Das hab ich mich nie getraut, weil ich immer dachte: „Wenn dem was passiert, dann hab ich das Gefühl, ich hab ihn tot geredet.“ Und ich denke, hinter ganz vielen Schuldgefühlen von Angehörigen steckt genau das auch drin. Gerade mit den Kranken ist man manchmal so fertig, zumal wenn sie einem dann auch noch drohen, „ich bring mich um“, dass man manchmal denkt „Ach wär’s endlich zu Ende. Würd er’s doch.“ Wenn da was passiert, bzw. auch der Gedanke, es könnte was passieren, das hat bestimmt damit zu tun. Denn so darf man doch um Himmels Willen nicht denken.

Ich: Wann fing für Sie persönlich die Angehörigenbewegung an?

Heim: Das war ganz am Anfang meiner Angehörigenkarriere, Anfang der 80er Jahre. Da hab ich dem Herrn Dörner geschrieben und der hat mir einen Brief zurückgeschrieben, der mich erst mal ziemlich aus der Bahn geworfen hat. Ich war damals selbst in der Klinik mit meiner Depression. Der Brief hat mich aber auf den richtigen Weg gebracht, muss ich sagen. Und der hängt mittlerweile bei vielen Leuten hinterm Spiegel.

Als unser Verein eine Broschüre gemacht hat, da haben wir den Dörner gefragt, ob wir den Brief veröffentlichen dürfen. Er hat ja gesagt. Und als der „Freispruch der Familie“ neu aufgelegt wurde, fragte der Verlag, ob er das übernehmen darf von uns und ob ich nicht was dazu schreiben könnte: Was das bei mir bewirkt hat und wie das bei mir weitergegangen ist. Das habe ich gemacht. Daraufhin hat es viele Tagungen gegeben mit Herrn Dörner und mir zum Thema „Verantwortung“. Als wir unsere Broschüre wieder neu auflegten, haben wir den Briefwechsel – das heißt jetzt immer „der Briefwechsel“ – in die Broschüre genommen.

Im Buch „Wenn nichts mehr ist wie es war“, das sollte die Fortsetzung zum „Freispruch“ sein, ist die Geschichte von „Rat und Tat e.V.“ drin. Wie wir anfingen, was daraus geworden ist. Wie wir uns in die psychosoziale Arbeit reingekämpft haben. Aber das kam später.

Um auf Ihre Frage zurückzukommen. Als ich damals aus der Klinik kam und immer noch dabei war zu versuchen, meinen Sohn zum Doktor zu kriegen, der ging ja nirgends mehr hin. Da hab ich zufällig in der Zeitung eine Notiz gelesen von der Familienbildungsstätte von einem Doktor, der eine Angehörigengruppe anbietet.

Und das war das erste Mal, dass ich von so was gehört hatte. Und da dachte ich, da geh ich hin. Und bin wie jeder andere auch mit völlig falschen Erwartungen hingegangen: „Die können mir jetzt sagen, wie ich meinen Sohn zum Doktor kriege.“ War natürlich nicht. Weder der Doktor noch die Angehörigen konnten mir so was sagen. Lacht

Und so nach dem dritten Mal habe ich gedacht: „Komisch, wieso gehst du eigentlich noch dahin? Du hast nicht erfahren, was du erfahren wolltest. Eigentlich hast du doch nur Entmutigendes erfahren. Du hast mitgekriegt, dass du eventuell ein Leben lang mit dem Thema zu tun haben wirst.“

Du hast da Leute getroffen, da ging es quer Beet, unterschiedliche Verwandtschaftsgrade, unterschiedliche Familienkonstellationen. Welche, die es nach Lehrbuch genau falsch gemacht hatten, so dass das Kind ganz bestimmt psychisch krank wurde, aber auch welche, die hatten nach Lehrbuch eigentlich alles genau richtig gemacht, und trotzdem . . . und da saßen Alleinerziehende, also wirklich, alles quer Beet.

In meinem Kopf waren ja schon viele Zweifel, denn mein Sohn hatte mir schon beigebracht, dass es mit den Theorien nicht immer so genau stimmt. Lacht Da ist es bei mir vom Kopf in den Bauch gerutscht.

Sag ich, ja, wenn so viele unterschiedliche Leute mit so vielen unterschiedlichen Leuten so unterschiedlich umgehen, und hinten kommt immer das Gleiche raus, nämlich eine psychische Erkrankung, also dann war ich es vielleicht doch nicht.

Ich hab immer das Gefühl gehabt, ich habe sicher irgendwas dazu beigetragen. Aber da ist mir das wirklich so richtig runtergerutscht: Dann war ich doch nicht so allmächtig, ihn krank zu machen. Und dann bin ich wahrscheinlich auch nicht so allmächtig, ihn gesund zu machen.

Ich hab immer gedacht, ich hab dazu beigetragen, dass er krank geworden ist. Jetzt muss ich auch irgendwas machen, um das Rad umzudrehen, dass er wieder gesund wird. Und da hab ich gesagt: Dann muss ich jetzt gucken, was ich draus mache für mich. Wenn er nicht will, und wenn er mit seiner Krankheit eventuell untergehen will, dann kann ich mich jetzt eigentlich nur noch fragen, will ich mit ihm untergehen oder nicht? Und wenn nicht, was mache ich dann? Und da hab ich erst den Mut und die Kraft gefunden, zu gucken, ob ich es nicht mit meinem Leben vielleicht noch mal probiere.

Dann bin ich noch mal zur Kur gegangen. Und als ich aus der Kur wiederkam, war die Gruppe eingeschlafen. Das hat mir richtig gefehlt. Das war 82 oder 83. Auf jeden Fall hab ich immer wieder in die Zeitung geguckt, ob ich nicht so was sehe. Und irgendwann, nämlich im Januar 84, hab ich entdeckt: Aha, da gibt es jetzt wieder eine Gruppe und zwar an der Melanchton-Akademie. Da bin ich hinmarschiert, ich war vielleicht in der ersten, zweiten oder dritten Stunde da. Es waren drei, vier Leute da, und ich hab gedacht: „Die Gruppe darf nie wieder einschlafen.“ Und da bin ich auch lange Zeit hingegangen, wenn mir überhaupt nicht nach Gruppe war. Da war ich selber noch sehr, sehr krank. Und erst Anfang 85 hab ich mir dann erlaubt, auch mal ein paar Wochen auszusetzen. Grad so anfangs der Gründungsphase.

Da hatte ich das Gefühl, das, was ich an Erleichterung erlebt hab, das müssten alle erleben dürfen: die Angehörigen, aber auch die Patienten. Ich kann dann solche Geschenke gar nicht für mich alleine behalten. Ich muss das dann weitergeben. Das treibt mich bis heute an: Und die müssen das Recht haben, so was auch zu erleben.

Entscheidend ist: Wollen Sie das annehmen oder nicht? Denn wenn sich jemand gerne opfert, dann ist das seine Sache. Ich sag ihm nur, was der Preis ist. Und male eventuell aus, wie das aussehen könnte. Und dass der Fensterplatz im Himmel da oben vielleicht schon besetzt ist, wenn ich da ankomme.

Also zu sagen, man kann es so machen, heißt ja aus der Ohnmacht heraus zu kommen. Das ist ja das Entscheidende. Damit kann kein Mensch umgehen, ohnmächtig zu sein. Wenn ich dann kapiert habe, dass ich beim andern ohnmächtig bin, aber nicht bei mir, kann ich schon wieder agieren, kann ich was tun. Was mich auch weiter bringt.

Aber weglaufen bringt’s nicht. Weil es läuft mit. Und Kraft finde ich in dem Moment, wo ich sage: „Ja, so ist es.“ Ich kann ja beim andern gar nichts ändern. Ich lass doch den andern auch nicht bei mir was ändern. Nun muss ich sagen, da hab ich auch einen Gewinn von meiner eigenen Krankheit. So gesehen. Weil ich dadurch Dinge kapiere, die Angehörige so nicht kapieren mögen. Weil es unbequem ist. Weil ich dann wieder die Verantwortung für mich übernehmen muss.

Als wir damals mit der Angehörigenarbeit anfingen, wussten wir ja nicht, dass in Bonn bereits Vorbereitungen liefen für einen Bundesverband. Da wusste man ja nichts voneinander. Wir haben irgendwie durch Zufall davon erfahren. Da war irgendwie eine Tagung. Es war sehr in den Anfängen. Im Januar 84 ist unsere Urgruppe gestartet, und im Mai 85 haben wir uns gegründet, einen Monat vor dem Bundesverband. Wir sind dann auch geschlossen zur Bundesverband-Gründung gegangen. Und damals, das haben Ihnen sicher die Stuttgarter auch erzählt, war es so: Angehörige, was ist das?

Unsere Broschüre ist damals in der Gründungsphase entstanden. Wir hatten uns entschlossen, einen Verein zu gründen und gleichzeitig Lobby zu werden, nachdem wir so die erste Phase unserer Angehörigengruppe hinter uns hatten und wieder über den eigenen Tellerrand hinausgucken konnten. Da haben wir gesagt: „Wir sind hier so fünf Leute. Es gibt in Köln bestimmt noch ganz viele, denen es geht wie uns. Wie kommen wir an die dran? Und wie erfahren die, dass es uns gibt? Und wie gut es tut, was wir hier miteinander treiben?“ Dann haben wir jemand von der Zeitung geholt. Die hat an unserer Gruppe teilgenommen, Fragen gestellt und einen Artikel drüber geschrieben. Und von Stund an stand das Telefon bei mir nicht mehr still.

Mein erstes Büro war in meiner Küche. Wir mussten sehr schnell eine zweite Gruppe gründen. Dann haben wir gesagt: „Es ist ja wunderbar, wenn wir uns verändern und gelassener werden. Wenn wir auch unsere Bedürfnisse, unsere Interessen vertreten können, und wenn zu Hause die Atmosphäre angenehmer wird. Aber das kann eigentlich nicht alles sein.

Wohin sollen wir z.B. die Patienten loslassen, wenn es draußen niemand gibt, der sie begleitet? Wenn es keine Arbeit gibt, keine geeigneten Wohnmöglichkeiten“ usw. Damals gab es ja auch kaum was. „Wir müssen Lobby werden. Und da müssen wir jetzt überall da hingehen, wo über die Verbesserung der Verhältnisse gesprochen wird. Und vor allem, wo
darüber entschieden wird. Wer soll es denen denn sagen, wenn nicht wir?“

Als wir mit der Gruppe anfingen, war das unter der Ägide einer Sozialarbeiterin vom Amt für Diakonie. Die war dafür zwei Jahre freigestellt. Die hat uns sehr gedrängt, selbständig zu werden und einen Verein zu gründen. Eigentlich war es wie beim Bundesverband, wie bei den Betroffenen selber auch: Es war zu früh für unseren Entwicklungsstand – aber es war eigentlich schon viel zu spät.

Es hätte viel früher passieren müssen, aber wir waren alle noch nicht so weit. Und das ist die ganze Crux dieser Bewegung nach meinem Gefühl: Die Aufgaben wachsen schneller als der Nachwuchs, der so was übernehmen kann. Das kann ja nicht jeder. Und ich sag auch, wenn wir dann wieder beleidigt sind, dass sich nicht genug Leute aktiv engagieren: „Na ja Gott, wir arbeiten mit den Angehörigengruppen hart daran, denen beizubringen und denen Mut zu machen, an sich selber zu denken und mal nein zu sagen. lacht Wenn sie dann nein sagen, sind wir beleidigt.“

Trotzdem. Grad wir hier in Köln sind noch gut dran. Weil wir sehr streng Angehörigenarbeit machen. Ganz viele andere machen ja keine Angehörigenarbeit. Die lassen sich darauf ein und arbeiten für die Patienten. Die machen ganz viele Angebote. Die Bonner heißen ja z.B. auch „Hilfe für psychisch Kranke“. Während wir von Anfang an gesagt haben: „ Wir kümmern uns um die Angehörigen, um die sich sonst keiner kümmert.“

Also ganz streng angehörigenorientiert. Für Angehörige. Was natürlich als sekundäre Folge den Patienten zugute kommt. Es gibt ja mittlerweile Leute, die sagen, sie schicken ihre Eltern oder Angehörige zu uns. Viele Betroffene sagen auch: „Also seit meine Alten da zu ,Rat und Tat‘ gehen, lässt es sich in der Atmosphäre zu Hause wieder leben.

Am Anfang, die ersten zwei, drei Jahre, kam in der Angehörigengruppe, vor allem wenn Neue gekommen sind, immer der Spruch: „Was wir hier miteinander machen, das kommt ja auch den Patienten zugute.“ Das musste immer noch gesagt werden als Rechtfertigung, dass wir selber gucken, wie es uns eigentlich mit der ganzen Geschichte geht. Das hat sich ausgewachsen. Obwohl immer noch, wenn Sie einen Angehörigen, auch einen langerfahrenen Angehörigen fragen „Wie geht es Ihnen denn?“ kommt meistens „Ja, mein Sohn“ oder „mein Mann“.

Aber da arbeiten wir wirklich dran. Manchmal kommen Angehörige mit einem Ordner unterm Arm und wollen von Adam und Eva an erzählen, wie die Entwicklung war mit der Krankheit usw. und sind bass erstaunt, wenn wir uns dafür gar nicht interessieren. Aber in dem Moment, wenn wir dann fragen: „Ja, wie geht’s denn Ihnen? Wie lange wollen Sie das denn noch mitmachen? Sich so unter Druck setzen lassen zum Beispiel? Sich so abstrampeln, wenn der Kranke oder die Kranke das gar nicht will und ablehnt? Warum müssen Sie das denn wissen? Das geht Sie doch eigentlich gar nichts an, ist doch erwachsen.“

Viele schlucken natürlich erst mal. Die meisten. Es ist auch nicht jeder bereit, bei sich selber mal zu gucken. Das muss jeder mit sich selber ausmachen. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die dann bleiben, und das sind eigentlich die meisten, wirklich Fortschritte machen. Wir sind fast wie eine Therapiegruppe. Wir betonen zwar auch immer wieder, wir machen keine Therapie, können wir auch nicht, dazu sind wir nicht ausgebildet. Wir können nur den Angehörigenaspekt bearbeiten.

Bei uns sind Leute – also quer Beet. Egal in welcher Beziehung zum Kranken, egal welche Diagnose der Kranke oder die Kranke hat, interessiert uns gar nicht. Mit den Diagnosen ist das eh so eine Sache. Gehst du zu drei Ärzten, kommst du mit fünf Diagnosen wieder.

Wir sind auch sehr skeptisch gegenüber dieser Psychoedukation, wo dann die Ärzte so schön in ihrer Dozentenrolle bleiben können und sich gar nicht auf die Leute einlassen. Für die Patienten finde ich das wichtig, und es ist ein Skandal, dass Patienten das machen müssen, damit man überhaupt erst mal mit ihnen redet. Also dass das, was in der Psychoedukation passiert, nicht selbstverständlicher Alltag in der Klinik ist.

Ich: Meinen Sie z.B. so etwas wie dieses Modell vom Wienberg? Sollte das Standard sein?

Heim: Ja. Wie soll ich mich denn schützen, wenn ich über meine eigene Krankheit nicht Bescheid weiß und nicht aufgeklärt werde? Über die Medikamente. Das ist eigentlich schlimm genug. Viele kommen und sagen: „Hier bin ich das erste Mal ernst genommen worden, bin ich zum ersten Mal auch was gefragt worden.“ Oder: „Man hat mit mir geredet.“ Das finde ich schlimm. Das ist ein Armutszeugnis für die Psychiatrie.

Aber Angehörige haben da drin nichts verloren. Angehörige haben zwar einen Riesenbedarf an Information. Das ist aber vordergründig. Es genügt für Angehörige so ein Basiswissen, das immer auch im Erfahrungsaustausch so hin- und herfließt. Dafür braucht man keinen Doktor. Was nützt es mir, wenn ich die Krankheitsbilder vorwärts und rückwärts aufsagen kann, wenn ich weiß, wie die Neuroleptika wirken, hoch-, nieder-, mittelpotent usw. und zu Hause sitze und nicht weiß: „Hol ich den jetzt aus dem Bett oder nicht?“

Wehr ich mich, wenn der ungewaschen, stinkend und unfrisiert zum Mittagessen kommt? Oder muss ich das alles hinnehmen, weil er arm und krank ist? Für Angehörige ist das Wissen oft gefährlich so nach dem Motto „Alles verstehen heißt alles verzeihen“. Das ist die falsche Methode. Ich kann als Mutter, Ehefrau oder auch als Tochter eines Kranken nicht Therapeutin sein. Das geht nicht. Im Gegenteil. Ich hab den Fehler am Anfang ja auch gemacht. Aber es verwirrt noch mehr. Weil die Kranken dann völlig durcheinander kommen.

Mein Sohn hat mir sehr geholfen auf meinem Weg. Weil der sehr stur war. Und weiß, was er will. Er sagt mir, wo es langgeht. Ich hab mir wirklich angewöhnt, mich erst mal hinzusetzen, tief Luft zu holen und in mich reinzuhorchen: „Wie würde ich reagieren, wenn meine Mutter das heute mit mir machen wollte?“ Und dann habe ich gemerkt: Ich wäre stinkesauer. Ich würde denken, das geht die gar nichts an. Nur wäre ich nicht so mutig wie mein Sohn, ihr das zu sagen. Ich würde irgendwie versuchen, mich rauszureden. Aber ich hätte eine Stinkwut. Und da wusste ich aber wirklich in 99,9 Prozent der Fälle, es geht mich nichts an.

Irgendwann muss man das kapieren, und das kapieren viele Eltern nicht, ob die Kinder gesund, krank oder was auch immer sind. Eltern fühlen sich sehr lange immer noch verantwortlich. Und versuchen, sich einzumischen.

Ich: So weit ich es mitbekommen habe, waren es in der Hauptsache Frauen, die am Anfang der Angehörigenbewegung aktiv wurden. Haben Sie das auch so erlebt?

Heim: Ja, das habe ich auch so erlebt. Allerdings, das Problem ist, ich hätte mich auch nie ’so sehr reinknien können, wenn ich zu der Zeit nicht selber krank gewesen wäre. Ich hatte auch einen Gewinn von meiner Krankheit. Wenn jemand voll berufstätig ist wie die Väter und die Ehemänner, die Söhne und auch die Töchter, die dann in den Beruf gehen, dann haben die nicht so viel Kapazität frei und überhaupt keine Zeit, sich so zu engagieren.

Und ganz viele Dinge passieren ja tagsüber. Da kann kein Berufstätiger. Nur die Rentner und die Nicht-Berufstätigen. Von daher ist das auch mit so angelegt. Da ist es kein Wunder, wenn dann diese Art von sozialer Arbeit an den Frauen hängenbleibt. Es hat auch was mit der Erziehung zu tun. Die ersten beiden Gruppen waren vormittags, und da waren natürlich die Weiber die meisten und die Mütter sowieso. Höchstens mal ein Rentner hat sich dahin verirrt.

Dann haben wir die erste Abendgruppe gemacht und gesagt: „Jetzt müssen wir den Berufstätigen auch eine Chance geben.“ Die lief noch nicht sehr lange, da hab ich mal Urlaubsvertretung gemacht. Für die Moderatorin. Und an dem Abend, sag ich Ihnen, lacht waren mehr Männer als Frauen da. Das hat mein Selbstbild völlig durcheinander gebracht.

Ich: Es ist also wertungsfrei zu sehen?

Heim: Ja. Manche Väter sind schlimmer als die schlimmste Mutter. Oder auch Partner, die sich dann so reinknien. Sich aufopfern, meinen, sich aufopfern zu müssen. Und das mit Liebe verwechseln. Aber die Tendenz bei Männern ist schon, weil die es nicht so gelernt haben über Gefühle zu sprechen, sich nicht so drauf einzulassen.

Es kommen viele als Ehepaare gemeinsam. Ich hab einen in der Gruppe, da kommt immer nur er. Da ist der Sohn krank und die Frau, die tut sich da irgendwie schwerer, aber trotzdem profitieren beide davon.

Ich: Sie machen nach wie vor Angehörigengruppen?

Heim: Ich mache nach wie vor zwei Angehörigengruppen, wenn auch nicht mehr ganz so regelmäßig, weil ich viel unterwegs bin und ja theoretisch reduziere. Ich war die letzten zwei Jahre sehr belastet, weil meine Depression wieder durchgekommen ist. Ich leide selber an einer chronischen Depression. Und bin deshalb auch schon sehr, sehr lange EU-Rentnerin.

Ich hab mich damals reinziehen lassen in die Vereinsarbeit. Da hab ich sozusagen die Gründung gerettet, indem ich mich bereit erklärte, den Vorsitz zu übernehmen. Mir ging es damals noch nicht besonders gut und ich dachte, ich nehme das mal als Training, so als Belastungstraining, bis ich wieder in den Beruf zurückkehren kann. Aus der Rückkehr in den Beruf ist dann nichts mehr geworden, und aus dem Vorsitz ist immer mehr geworden, und ich habe zehn Jahre gebraucht, bis ich das Amt endlich wieder los war.

Das waren zehn Aufbaujahre. Dann ist es wie gesagt immer mehr und mehr geworden, und die Leute sind nicht schnell genug nachgekommen. Obwohl wir mit 24 Gründungsmitgliedern angefangen haben. Mittlerweile sind wir etwas über 360 Mitglieder. In die Gruppen kommen allerdings nicht nur Mitglieder. Nicht jedes Mitglied ist in der Gruppe, und nicht jeder Gruppenteilnehmer ist unbedingt Mitglied.

Aber wir haben immer regelmäßig so 23 Leute, die Aufgaben übernehmen können, sei es Vertretung im Arbeitskreis PSAG oder in der Gruppe. Wir haben ein kleines Büro und haben da viermal in der Woche auch Einzelberatung. Das will alles abgedeckt sein. Aber wenn jemand Vertretung macht, auch in der Außenvertretung, da muss bei uns jeder erst mal in den Gruppen gewesen sein. Da sind wir ganz streng. Damit niemand nur Funktionär wird. Also ich bin es auch nicht.

Ich: Der muss erst einmal sehen, wie die Gruppen funktionieren?

Heim: Ja. Und das Eigene muss erst mal ein bisschen abgearbeitet sein. Sonst macht man Dinge, die einem selber helfen, aber nicht unbedingt dem, für den man es angeblich tut.

Mir hat mal einer vor vielen Jahren gesagt: „Warum machen Sie eigentlich noch die niedere Arbeit sozusagen? Gehen Sie doch in die Politik.“ Ich könnte das gar nicht, weil mein Problem so weit abgearbeitet ist. Ich brauche den Ärger und die Wut aus der Gruppe. Wenn ich sehe, was immer noch passiert, wo ich dann wieder an die Decke springe und sage: „Was? Jetzt sind wir über fünfzehn Jahre dran. Hat sich denn nichts verändert?“ Dann gehe ich wieder an die Decke. Wenn ich das nicht hätte, würde ich vielleicht auch so werden wie mancher Funktionär.

Ich sag immer, ich leg Wert auf meinen schlechten Ruf. Und das finde ich das Schöne an der ehrenamtlichen Arbeit: Wir dürfen auch emotional sein. Was scheuen Fachleute mehr als sogenannte emotionale Diskussionen? Weil sie Angst davor haben. Weil es gegen das Erlebte, das Erfahrene keine Argumente gibt.

Auf der Kopfebene gibt es für jedes Argument ein Gegenargument. Sogenanntes objektives Gegenargument. Und deswegen sind auch oft schon Politiker zu uns Angehörigen gekommen, wenn sie was in unserem Sinne durchsetzen wollten und haben gesagt: „Sie müssen uns helfen. Nur Sie können denen das wirklich rüberbringen. Was Sie durchmachen, was Sie erleben, und warum es sich ändern muss.“ Dass wir sie unterstützen, um etwas zu bewegen. Denn wenn ich auf dieser Kopfebene argumentiere . .. Ich habe es mal so formuliert: Es muss mir was zu Herzen gehen.

Wenn ich was zu meiner Herzensangelegenheit mache, dann habe ich auch die Kraft und das Durchhaltevermögen, mich wirklich einzusetzen. Wenn ich es nur so mit dem Kopf mache, na ja, Gott, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Dann bleibt es auf dieser Ebene, wo man dann weiter auch auf dieser Machtschiene läuft. Wenn ich es mir mit dem verderbe, hmhmm, und mit dem verderbe, hmm, wo ich taktiere, und am Schluss kommt nichts bei rum.

Das hat mir auch sehr viel Mut gemacht. Ich sage, was ich sehe, was ich empfinde. Und dann kapieren die erst was. Denn es geht vieles verloren, wenn ich nur so darüber nachdenke und mir meine Theorien mache. Fachleute haben ja sozusagen immer nur eine Dimension im Auge, nämlich die, die durch ihre Brille passt. Mir ist es irgendwann bewusst geworden, auch mit diesen ganzen psychologischen Theorien und so. Ich habe lange gesagt, ich hab den Eindruck, dass die Theorien und die Aussagen, die die machen, dass die mehr über die Therapeuten und Erfinder der Theorie aussagen als über ihre Klienten.

Ich: Meinen Sie auch so Leute wie Dörner und Finzen usw.?

Heim: Ja natürlich, ja klar. Finzen hat ja immerhin schon den Mut gefunden, sich als Angehöriger zu outen. Ganz viele Psychiater haben ja irgendwas in der Familie gehabt. Nur sind sie zu feige, es laut zu sagen. Man muss das ja nicht jedem auf die Nase binden. Aber da, wo es sich ergibt. Auch der Herr Deger hat lange gebraucht, bis er sich geoutet hat. Das weiß ich noch bei der Gründungsversammlung. Lacht Von daher kann man sagen, und das lässt sich auch beweisen sozusagen, dass die Stigmatisierung psychisch Kranker aus der Psychiatrie kommt. Die ist es, die die Krankheitsbilder unters Volk bringt.

Bei uns in der Gruppe ist vor einiger Zeit mal eine gestandene Krankenschwester aufgetaucht, die in der Psychiatrie arbeitet, die Angehörige geworden ist, weil ihr Sohn oder ihre Tochter dekompensiert ist. Und die sich nicht traut, auf Station, in ihrem Team, das offen zu sagen. Da hört’s bei mir auf. Und da wollen die Psychiater eine Anti-Stigma-Kampagne beim niederen Volk machen. Die müssen nur bei sich selber anfangen.

Das Abgrenzungsbedürfnis in der Psychiatrie ist grenzenlos. Da werden Wälle aufgebaut. Als ob es hochansteckend wäre.

Ich: Was verstehen Sie überhaupt unter psychisch krank?

Heim: Also: Die Psychiatrie hat sich ja mittlerweile alles unter den Nagel gerissen. Auch die Neurosen usw. Für mich hat das, was ich harte Psychiatrie nenne, was mit Psychose zu tun. Also wo es darum geht, na ja, in abgemildeter Form ist es auch bei der Neurose so, dass ich die Realität verzerrt wahrnehme. Es sind eigentlich nur graduelle Unterschiede. Aber wo es dann wirklich in die psychische Erkrankung geht, ist da, wo die Wahrnehmung sehr gestört ist. Also wenn ich Stimmen höre oder optische Halluzinationen habe usw.

Und es fängt dann an, Krankheitswert zu bekommen, wenn ich mit meinem Alltag nicht mehr zurechtkomme. Diagnosen würde ich gar nicht so streng nehmen. Persönlichkeitsstörungen, das sind ja alles sehr schwammige Begriffe. Eine leichtere Störung wie eine sogenannte reaktive Depression, also, wenn es nicht zu schlimm wird, würde ich das alles noch außerhalb der Psychiatrie lassen.

Aber da, wo ich Schwierigkeiten habe, die Realität überhaupt wahrzunehmen, ja, wo ich Dinge dann nur noch auf mich beziehe oder wo ich mich nicht mehr steuern kann, da würde ich sagen, fangen die psychischen Störungen an. Die Probleme, die wir miteinander haben, sind die ganz normalen zwischenmenschlichen Probleme. Immer nur noch potenziert. Manche zwischenmenschliche Probleme, ja, das ist so wie in einem Brennglas.

Und solange ich keine psychotischen Anteile habe, bin ich in der Psychiatrie … na ja Gott, wer ist überhaupt gut aufgehoben in der Psychiatrie? Ich war ja selber in der Klapse. Anderthalb Jahre in der psychosomatischen Klinik mit der Depression und bin dann so gegen Ende noch mal in eine Krise geraten. Da haben sie mich abgeschoben in die Klapse, und da war ich drei Monate auf ner Geschlossenen. Ich fand das ne Zumutung. Ich habe damals sehr viel gelernt für den Umgang mit meinem Sohn. Und ich habe die psychisch Kranken wirklich schätzen und bewundern gelernt. Aber für mich war es, ich hab erst hinterher gemerkt, wie viel Kraft mich das gekostet hat. Von der hochtherapeutisch ausgerichteten psychosomatischen Klinik in die sprachlose Psychiatrie. Das war schlimm. Und da hab ich gemerkt, ich gehöre da nicht hin, weil ich klar war im Kopf.

Mancher geht ja auch, weil er eine Auszeit braucht. Und das ist in Ordnung. Wenn es nur nicht diesen Stempel hätte. Von daher, ich nehme das nicht so streng. Ich ärgere mich nur, wenn Sachen sozusagen von der Psychiatrie okkupiert werden. Die nach meinem Gefühl nicht dahingehören. Bei seelischen Krankheiten sind die Grenzen ja sehr fließend. Es ist die Frage, wie man damit umgeht. Wenn die Psychiatrie endlich ernst machen würde. Sie behaupten ja, sie reden ganz viel mit ihren Patienten neuerdings. Aber sie können es ja noch gar nicht. Sie haben es gar nicht gelernt. Die Psychologie fängt ja erst an in der Psychiatrie.

Da muss noch viel passieren. Wenn die anders mit ihren Patienten umgehen würden und nicht erst mit der Spritze dastehen, sondern erst Kontakt aufnehmen, mit oder ohne Sprache, dann wäre das anders. Und dann würde ich mich auch nicht scheuen, nicht psychotische Leute in so eine Klinik zu lassen.

Ich habe sehr große Zweifel, ob es gelingen wird, die Psychiatrie zu verändern. Da muss sich was ändern. Aber ich zweifle immer mehr, weil einfach wirtschaftliche Interessen dahinterstehen. Die Pharma-Industrie kann ja gar nicht dran interessiert sein, dass mehr Gespräche mit den Patienten geführt werden. Dass Medikamente nur verabreicht werden, wo es wirklich nötig ist und nur solange es wirklich nötig ist. Dass die Ärzte lernen, richtig auszuschleichen, beispielsweise. Es ist ja ein regelrechter Zynismus … die Psychiater sind ja so auf ihre Medikamente fixiert. Ich habe wirklich nichts gegen Medikamente. Bei meinem Sohn helfen sie, von außen gesehen zumindest, bei mir helfen sie immer nicht. Ich finde, man kann nicht für oder gegen Medikamente sein.

Ich: Ich finde, es ist wie mit den Diagnosen. Ich denke mal, wenn eine Diagnose lediglich ein Arbeitstitel ist …

Heim: Genau. Und wir wissen noch nicht, was wir in zwanzig Jahren über die Medikamente, gerade über die. neueren, die atypischen Medikamente, denken. Und das Schlimme ist: Die Angehörigen fahren ja mittlerweile auch drauf ab. Die sind ja auch nicht mehr unabhängig. Einige Male habe ich gedacht, ich lese nicht recht. Und deshalb bin ich mit der offiziellen Angehörigenbewegung nicht mehr sehr glücklich. Und weigere mich auch, für den Bundesverband zu sprechen.

Ich: Der Bundesverband steuert da eine Linie, …

Heim: die ich nicht mittragen kann.

Ich: Wegen der Pharmageschichte?

Heim: Ja. Und wegen der Kooperationsverträge mit Lilly und mit Janssen. Sie bilden sich ein, sie könnten das für sich instrumentalisieren und merken gar nicht, dass sie instrumentalisiert werden. Also ich weiß nicht, ob Sie das verfolgt haben, diese unsägliche ZDF-Aktion. Es war ein Skandal gleichermaßen. Im Dezember …. Da hat sich der Bundesverband einspannen lassen. Von Angehörigen war da noch nicht mal die Rede. Da hat der Bundesverband gemeint, sie hätten erwartet, dass ihre Interessen da mehr gewahrt würden. Ich muss meine eigenen Interessen wahren. Ich kann doch nicht erwarten, dass Jannsen-Cilag die wahrt. Die werden überhaupt nicht ernstgenommen, die Angehörigen.

Sie werden nur wirklich ernstgenommen, wenn Sie einfach rigoros zu dem stehen, was Sie sagen und meinen und wollen. Und der Bundesverband steuert eine Linie, wo er sich das gar nicht mehr leisten kann. Weil er Angst hat, er kriegt die Zuschüsse entzogen.

Ich: Wo müsste der Bundesverband denn Ihrer Meinung nach hin? Was sollten seine wichtigsten Anliegen sein?

Heim: Die wichtigsten Anliegen sollten die Probleme der Angehörigen sein. Beim Bundesverband ist es immer noch so, dass sie sehr viel mehr für die Kranken sprechen als für die Angehörigen. Aber es gibt mittlerweile den BPE, den Bund der Psychiatrie-Erfahrenen. Die Angehörigen tun sich recht schwer damit, dass sie nicht mehr diejenigen sind, die für die armen Kranken sprechen können. Ich denke, es ist wichtig, dass sie sehr eng mit dem BPE kooperieren. Obwohl ich auch verstehen kann, dass der BPE sehr skeptisch ist bei der Art von Politik, die die Angehörigen zur Zeit betreiben.

Ich: Meinen Sie nur die Pharma-Sache?

Heim: Ich meine die Pharma-Sache. Aber auch die Linie zum Teil. Weil die Angehörigen immer noch sehr auf dieser Sozialarbeiter-Ebene, sag ich jetzt mal, verharren. Immer wenn ich die Fürsorge so nach vorne stelle, bin ich auf der Ebene, ich muss für die armen Kranken sorgen.

Ich: Also nicht gleichberechtigt?

Heim: Ja. Ich bin felsenfest der Überzeugung, dass wir unterschiedliche Interessen haben. Man kann aber auch ein gemeinsames Ziel aus unterschiedlichen Beweggründen haben. Natürlich haben die Psychiatrie-Erfahrenen andere Interessen. Die wollen ihre Rechte, ihre Vorstellungen durchsetzen, die nicht unbedingt identisch sind mit den Vorstellungen der Angehörigen. Die Angehörigen müssten lernen, selber unabhängig und autonom zu werden. Und da müsste der Verband viel stärker drauf hinarbeiten.

Wenn die Angehörigen nicht autonom werden, können die anderen ja auch nicht autonom werden. Aber auch da haben viele noch nicht kapiert, dass ich den anderen nicht autonom machen kann. Sondern dass ich ihn nur autonom werden lassen kann. Aber das ist ein schwieriger Prozess, dem sich leider Gottes viele nicht stellen mögen.

Am Anfang hieß es bei uns immer, das heißt es bis heute oft noch, auch die Frau Schütt hat das so gesagt: „Man kann doch nicht immer in seinem Leid baden. Man muss was tun!“ Wir baden nicht in unserem Leid – ganz im Gegenteil. Es gibt ganz viele Angehörigengruppen, die genau deshalb nicht funktionieren, weil sie einerseits nur machen wollen, und wenn sie dann zusammen sitzen, wenn sie sich mal um sich selber kümmern, dann halt nur jammern. Und sich dann entlasten, indem sie ganz viel tun.

Und wenn Angehörige jammern, dass sie alles getan haben und nichts nützt, und dann auch noch beleidigt sind, dann sag ich: „Ja, das ist der Dank dafür, nicht?“ Ich habe es ja nicht für den anderen getan, sonst hätte ich vielleicht manchmal viel mehr ausgehalten. Sondern ich habe es für mich getan. Damit es mir besser geht, und der Kerl, der macht das einfach nicht. Der ist noch nicht mal dankbar für all das, was ich ihm geopfert hab. Aber wer möchte schon, dass sich jemand opfert? Aber das macht man sich ja nicht bewusst. Man meint ja, man tut was Gutes, und eigentlich tut man was Schlechtes.

Mein Sohn wollte von mir auf Händen durchs Leben getragen werden. Er hat ein großes Problem mit mir, denke ich. Da war irgendwie zu viel Beziehung. Das sehe ich. Er wollte wirklich bestimmen, was ich für ihn tue, wie ich es mache. Und er wollte natürlich über mich verfügen. Also bei mir reinreden, aber bei sich nicht reinreden lassen. Das ist bei vielen so. Ich denke, manche psychische Krankheit hat schon auch was mit verpasster Pubertät zu tun. Bzw. wenn es in der Zeit angefangen hat, ist man ja auch nicht richtig dazu gekommen.

Es ist eigentlich ein Glück für uns: Unsere psychisch Kranken, die sind ja nicht unbedingt einverstanden mit dem, was wir von ihnen erwarten. Eher nicht. Lachen Und die sind ja im Grunde sehr kreativ, wenn man sie lässt. Das ist mit unsere Arbeit, dass wir die Angehörigen ermutigen, sich zurückzunehmen und das „Hotel Mama“ nicht so angenehm zu gestalten.

Weil es auf der einen Seite Wut macht, so abhängig zu sein, auf der anderen Seite nehme ich natürlich die Annehmlichkeiten in Kauf. Das ist ja eine gegenseitige Abhängigkeit.

Und das ist nicht gesundheitsfördernd. Weder für den einen noch für den anderen Partner. Wir ermutigen die Angehörigen, Bedingungen aufzustellen. „Wenn du hier mit uns leben willst, dann nur unter der und der Bedingung.“ Es gibt ja nicht den Königsweg. Es gibt Angehörige, die finden einen Modus, dass das Zusammenleben funktioniert. Aber nicht, indem sie sich aufopfern und alles für den andern tun.

Es gibt auch manche, da funktioniert es ganz gut, und man denkt: „Mein Gott, was soll bloß werden, wenn die Angehörigen nicht mehr da sind?“ Das läuft dann besser als je gedacht. Lacht Weil manche sich dann wer weiß wie entfalten. Aber solange beide miteinander glücklich sind, ist es ja okay. Aber wenn einer anfängt, unter der Situation zu leiden, muss man gucken, ob man nicht was verändern kann.

Wir ermutigen die Angehörigen eben, nicht alles zu übernehmen. Sich nicht unter Druck setzen zu lassen. Spielregeln aufzustellen. Wir haben Angehörige, die gesagt haben: „Okay. Aber du musst einmal am Tag ein Ziel haben.“ Beispielsweise in die Tagesstätte zu gehen. Oder zum Frühstück irgendwohin zu gehen. Oder irgendwas zu machen. Und irgendwann kommen die eventuell auch in eine Werkstatt. Weil ich sage, das halte ich sonst nicht aus.

Ich: Hat sich das bei Ihnen im Laufe der Jahre so entwickelt, oder haben Sie schon von Anfang an diesen Standpunkt gehabt?

Heim: Die Richtung war da. Auf dem Weg war ich schon, wenn auch sehr am Anfang. Bei mir war es besonders schlimm, weil mein Sohn so was von geklammert hat, dass ich ihn regelrecht vor die Tür setzen musste. Und er ist bei mir eingebrochen, wenn ich nicht zu Hause war, er hat sich im Keller eingenistet, bis das ganze Haus protestiert hat, er hat auf der Fußmatte vor meiner Wohnungstür geschlafen, um mich zu zwingen, also, es war grauenvoll. Und ich wusste, ich kann ihm – wenn überhaupt – nur helfen, indem ich ihn nicht mehr reinlasse. Aber das war wirklich sehr hart. So hart muss es gar nicht überall werden. Wird’s auch in der Regel nicht.

Wir hatten Angehörige, die den blauen Sack gefüllt und vor die Tür gestellt haben. Lacht Das hat dann sehr schnell funktioniert. Bei uns war es wirklich schlimm. Deshalb weiß ich, wie schwer es ist. Aber im Laufe der Zeit hat sich meine Theorie vollauf bestätigt. Ich sag immer: „Es muss Luft dazwischen“. Die müssen auseinanderrücken, damit beide wieder atmen können. Sich bewegen können. Das ist der einzige Königsweg. Es muss dann jeder selber rausfinden, wie viel Luft er braucht. Und ob es damit getan ist, wenn man sich innerhalb der Wohnung, innerhalb des Hauses auseinanderdividieren kann, oder ob der andere besser auszieht. Oft sagen Angehörige: „Ja wenn ich wenigstens nicht dauernd zugucken müsste.“

Ich habe lange Zeit immer gesagt: „Ach was. Ich muss mich entscheiden, mich umzudrehen und woanders hinzugucken. Es ist völlig wurscht, wo derjenige wohnt. Ich muss mich umdrehen.“ Und ich hab immer gesagt: „Macht euch nichts vor. Und wenn er am anderen Ende der Welt wäre, und Ihr guckt immer dahin.“ Und was soll ich Ihnen sagen: Eines Tages erscheint bei uns eine Mutter, die war aus Australien re-immigriert und hatte den kranken Sohn noch in Australien, der auch psychisch krank war. Sie war im Kopf und im Herzen nur noch in Australien. Die hat täglich mit ihm telefoniert. Also da waren die Angehörigen in unserer Gruppe, die ihre Leute zu Hause hatten oder um die Ecke, schon weiter. Natürlich ist es leichter wegzugucken, wenn er nicht jeden Tag vor mir steht. Aber wenn ich nicht will, dann lass ich den nicht los, egal wo er ist. Das macht man sich nur ungern klar.

Ich wusste, als ich zum ersten Mal im Urlaub war und vergessen hab, am letzten Tag ist es mir dann eingefallen, meinem Sohn überhaupt eine Karte zu schreiben, ich hatte die ganze Zeit überhaupt nicht an ihn gedacht, wusste ich, jetzt bin ich auf dem richtigen Weg.

Klingt völlig verrückt, ist es aber nicht. Wir haben gelernt, es kommt jedes Mal in der Gruppe: „Ja, aber man bleibt doch immer die Mutter“. Lacht Ja natürlich. Aber mein Kind ist nicht mehr mein Kind. Es ist genauso erwachsen oder nicht erwachsen wie ich. Nämlich schon seit ewigen Zeiten volljährig. Und für sich selber verantwortlich. Ich kann nicht wissen, was für den das Beste ist. Und ich kämpfe auch für meine Rechte. Meine Rechte sind das genauso wie die Rechte der Erkrankten oder der Behinderten oder was auch immer.

Nämlich so zu leben, wie ich leben kann. Wie es für mich einigermaßen erträglich ist. Wie ich einigermaßen zurechtkomme. Wie das aussieht, kann ich nicht wissen. Da muss es ganz viele unterschiedliche Angebote geben. Ich bin gegen diesen verflixten Reha-Druck und das Hochhalten der Normen, gerade auch bei Angehörigen.

Wenn die Psychiatrie anders wäre, als sie ist, könnte die regelrecht Vorreiter werden. Nämlich für die Toleranz, für den Umgang mit dem Fremden. Was bei psychischen Krankheiten Angst macht, ist das Befremdliche. Mir ist es immer noch unheimlich, auch wenn es jetzt nicht mehr so schlimm ist. Aber wenn mein Sohn vor mir stand und war nicht erreichbar, mir fremd geworden, ich hab das auch oft kaum ausgehalten. Auf der anderen Seite habe ich auch erlebt, wie er dann so wunderbar wegflutschte, wenn es ihm zu eng wurde, immer wenn ihm eine Diskussion zu lästig wurde, dann hat er angefangen zu spinnen. Ich hab ein paar Mal Erfolg damit gehabt, dass ich gesagt hab: „Hier geblieben. Ich will jetzt mit dir reden.“ Da hat er so ein kleines Grinsen im Mundwinkel gehabt, und es hat funktioniert.

Ich: Ich komme noch mal drauf zurück: Wann fängt für Sie die Angehörigenbewegung an?

Heim: Die Angehörigenbewegung als Bewegung fing für mich mit der Gründung des Bundesverbandes an. Da habe ich überhaupt erst wahrgenommen, dass es eine Bewegung gibt.

Für mich persönlich war das vielleicht so ein Jahr vorher. Vorher hatte ich auch noch nie was von Angehörigen gehört. Als ich aus der Klinik kam und das mit meinem Sohn war, und klar war, dass da wirklich nichts mehr zu retten war.

Ich: Wann fing es denn an, dass Sie es gemerkt haben?

Heim: Ich bin diejenige, die es zuerst gemerkt hat, die aber von den Fachleuten sehr lange beruhigt worden ist. Ich hab Anfang der 60er Jahre mal auf einer Privatstation für psychisch Kranke, also so eine Mischung aus Psychiatrie und Psychotherapie, gearbeitet. Und da hab ich was kapiert. Deshalb vertrete ich heute noch die Meinung, wer im Bereich Psychiatrie arbeiten will, egal in welcher Funktion, der sollte zumindest mal ein halbes Jahr auf einer Station, möglichst auf einer geschlossenen, gewesen sein, am besten inkognito als Patient unter Patienten.

Egal wie und sei es als Putzfrau. Denn dann kapiere ich was. Das, was ich unter psychischer Erkrankung verstehe, ist inhaltlich sehr unterschiedlich. Aber von der Form her ist es immer das gleiche. Es gibt so ein Schema, wo Sie sagen: „Aha, jetzt kippt’s um.“ Wo es nicht mehr normal in Anführungszeichen ist. Eigentlich sind es Stereotypen. Die nur inhaltlich unterschiedlich gefüllt sind. Je nach Erfahrungshorizont.

Und da sind bei mir die roten Lampen angegangen, als es dann bei meinem Sohn anfing. Alle anderen haben das nicht gesehen. Da war sogar der erste Schub schon vorbei, also jetzt weiß ich, dass das der erste Schub gewesen sein muss. Damals hatte ich immer so eine Ahnung, hab dann aber, Gott, ich hab meinen Freud auch verinnerlicht. Irgendwann bin ich an mir selber irre geworden und hab gedacht: „Mein Gott, was ist mit dir los, dass du solche Phantasien über deinen Sohn hast? Was wünschst du dem eigentlich?“

Ich: Hat sich in der Psychiatrie eigentlich was geändert von den 70ern bis jetzt?

Heim: Da hat sich graduell einiges verbessert. Aber Sie müssen mindestens alle zwei Jahre von vorne anfangen. Wenn dann Neue dazukommen.

Ich hab ja lange dafür gekämpft, so niedrigschwellige, nein, eigentlich schwellenlose Einrichtungen zu schaffen. Weil ich an meinem Sohn gesehen habe, dass das nötig ist. Es gibt
Leute, die können diesen Reha-Druck nicht aushalten, und die treibt man dann immer weiter weg. Statt sie erst mal so sein zu lassen, so zu akzeptieren, wie sie sind. Punkt.

Und das ist auch dieses blöde Alles-gleich-sein, dieses Anti-Stigma und vor allem mit den neuen Neuroleptika. Denn dann sieht man es ihnen nicht mehr an, und das sei Integration. Das ist keine Integration. Wenn ich jemand nicht gelten lassen kann, wie er ist … Also wenn der zu sehr stinkt, kann ich sagen: „Du, ich setz mich woanders hin, oder setz du dich bitte woanders hin. Ich halte das nicht aus.“ Oder: „Du bist mir zu laut. Ich halte das nicht aus.“ Aber nicht: „Man tut so was  nicht, und man sieht ordentlich aus.“ So kann es nicht funktionieren.

Das ist Stigmatisierung, wenn ich sage, wenn man es ihnen nicht mehr ansieht.

Ich: Weil er einen Teil seines Wesens verleugnen muss?

Heim: Genau. Und manche schaffen es gar nicht, so auszusehen, dass man ihnen nichts mehr ansieht. Was ist dann mit denen?

Ich finde, Integration ist, wenn ich so aussehen darf und so sein darf, wie ich halt bin und wie ich meinetwegen auch aussehen möchte. Auf der anderen Seite ist ja vieles auch bewusste Provokation: Wenn ich stinke, halte ich mir die Leute vom Hals. Und ich kann das dann ansprechen: „Das mach ich das nächste Mal auch, dann krieg ich wenigstens Platz in der Straßenbahn.“ Lachen

Und die spüren das ja ganz genau. Der will mir zwar vielleicht helfen, aber er will, dass ich so werde, wie man zu sein hat. Er will nicht mich so stützen, dass ich so, wie ich bin, im Leben zurechtkomme. Und das ist das, was ich nicht entstigmatisierend empfinde. Und entdiskriminierend. Das ist es ja nicht. Und wenn die Psychiatrie anders wäre, wenn die Vorreiter wäre für Toleranz und Zusammenleben, nicht ohne Konflikte, aber dass jeder sein Lebensrecht hat. Und jeder muss selber entscheiden. Es gibt Leute, die sagen: „Ich will angepasst leben, und das schaff ich nur mit den Medikamenten.“ Dann ist immer noch nicht klar, ob das so viel und so lange sein muss usw. Aber es gibt kaum Ärzte, die gelernt haben, wie man so was schön ausschleicht, damit nix passiert.

Und das ist der Trugschluss bei den Angehörigen. Die denken immer: „Nimmt er auch seine Medikamente?“ So ein Quatsch. Der muss selber rausfinden, was er braucht und was nicht. Und es ist dringend nötig, dass es Ärzte gibt, die dabei helfen. Das rauszufinden. Es gibt ganz viele Leute, die schaffen es, Bedarfsmedikation zu machen. Die gucken können, wann sie es brauchen, die dann lockerer damit umgehen können. Aber wenn ich die immer nur vergattere und die dann eigenmächtig was machen, und geht das schief, sage: „Siehste, ich hab’s ja gleich gesagt.“ Das ist eigentlich menschenverachtend.

Die Pharma-Industrie ist da sehr gewieft. Die verstehen ja was von Werbepsychologie. Im Unterschied zu den ganzen Ärzten und Angehörigen obendrein. Und wir wissen ganz genau, wo die Ärzte ihre Fortbildungen herkriegen in dem Bereich. Da stecken ja massive wirtschaftliche Interessen dahinter. Und es gibt auch keine unabhängige Forschung in dem Bereich. Und dann muss ich schon sehr kritisch sein und sehr, vielleicht auch neugierig sein, um es wissen, wirklich wissen zu wollen. Und vor allem muss ich mich auf die Patienten einlassen können, auf die Person, die vor mir sitzt. Und dann sagen: „Wir probieren es mal.“

Ich: Da setzt der Angehörigenverband aufs falsche Pferd?

Heim: Ja natürlich. Was ich auf der einen Seite verstehen kann. Viele Angehörige verstehe ich sehr gut. Aber nicht alles, was ich verstehe, finde ich auch gut. Angehörige greifen nach jedem Strohhalm. Es wäre schön, wenn sie gucken würden, lacht ob das mit dem, was ihre Patienten wollen, übereinstimmt. Weil die sich unter Umständen andere Strohhalme suchen. Oder gar keine wollen. Also da fängt der Konflikt mit den Familien an. Wo dann das, was ich unter Angehörigenarbeit verstehe, helfen kann.

Ich: Was sollen die Angehörigen einfordern?

Heim: Der Knackpunkt ist: Angehörige müssen sich eingestehen, dass sie die Sorge loswerden wollen. Wie es normal ist im Leben. Ich möchte mich für den Erkrankten nicht mehr
verantwortlich fühlen, nicht mehr zuständig fühlen. Und dass ich dann natürlich dafür sorgen will, dass andere soweit, wie der Hilfe braucht, die bestmöglichst liefern. Das heißt: bestimmt fordern, dass die Gemeindepsychiatrie das und das bereit hält zur Entlastung der Angehörigen.

Ich: Es aber nicht selber machen?

Heim: Nein. Denn in dem Moment, wo ich mich in die Strukturen begebe, bin ich nicht mehr unabhängig. Unsere Strategie ist: Wir legen die Finger in jede Wunde. Wir machen
jeden Missstand öffentlich. Und wir dividieren die Verantwortungen auseinander, jedem die seine. Und dort, wo die Verantwortlichkeit liegt, da fordern wir es dann auch ein. Und wir schreien laut auf, wenn wir wieder was entdeckt haben, oder was immer noch ist, aber machen es nicht. Es ist nicht unsere Aufgabe.

Angehörige sollen auch Freude am Leben haben können. Aber das setzt voraus, dass ich eine psychische Erkrankung nicht mehr als so eine furchtbare Katastrophe erlebe. Dass ich sehe, was für ein kreatives Potential auch dahintersteckt. Und was für eine Kraft dahinter steckt.

Ich: Muss ich das als Angehörige nicht erst lernen? Geht es nicht darum, dass ich bloß nicht irgendwo steckenbleiben darf?

Heim: Ja, ganz genau. Und das ist Aufgabe der Angehörigenbewegung, da zu helfen. Der erfahrene Angehörige, die, die schon weiter sind, unterstützen andere Angehörige in diesem Prozess. So was ist ganz echte Selbsthilfearbeit.

Ich: Aber das ist doch eine Katastrophe. Was weiß ich, der hat schon X-Mal versucht, sich umzubringen, oder der läuft außer sich durch die Gegend und wird von der Polizei aufgegriffen. Und leidet furchtbar und hat ganz schrecklichen Verfolgungswahn. Das ist doch eine Katastrophe, oder?

Heim: Na, klar. Zunächst mal. Aber irgendwann muss mir aufgehen, der könnte ja was dagegen unternehmen, wenn er so leiden würde wie ich. Es ist mein Problem, ich suche Hilfe. Der andere leidet offensichtlich nicht so wie ich. Also sehe ich da vielleicht was verkehrt.

Am schnellsten kapieren das Angehörige, wenn man sie darauf hinweist, was sie ja meistens auch selber sagen: „Wenn der zum Doktor geht, zehn Minuten, da tut der ganz normal. Und der merkt noch nicht mal, wie krank der ist.“ Und ich sage dann: „Das ist ja eigentlich ein ganz gesunder Anteil. Lacht Er weiß genau, wo er sich wie zu benehmen hat.“ Die Angehörigen sagen dann: „Aber der ist doch so furchtbar krank.“ Ich sage dann: „Ja, er ist immerhin so krank, dass er ganz genau weiß, wo er Sie hinbringen will. Und das auch schafft.“ – „Ja, da haben Sie eigentlich recht.“

Also zu gucken, was ist meins und was ist seins, und zu sehen, Mensch, stimmt überhaupt, so krank ist er denn auch wieder nicht. Er weiß ganz genau, wie er sich wo zu benehmen hat. Er hat beispielsweise immer die besseren Argumente. Er setzt mich unter Druck. Es gibt wirklich Fälle, jetzt also nicht wörtlich ausgesprochen, manche sagen’s auch wörtlich, aber die zumindest signalisieren: „Du, sei lieb! Sonst werde ich wieder verrückt.“

Und Angehörige fallen sofort drauf rein. „Wenn Du nicht alles für mich tust, wenn Du nicht lieb bist, dann wirst Du schon sehen, was Du davon hast.“ Da ist ja unheimliche Macht dahinter. Und ich sag auch schon mal: „Ach, so eine psychische Krankheit ist ja auch was Wunderbares.“

Ich war bei meinem Sohn auch so. Ich hab das nur irgendwann relativ schnell und mit der Hilfe des Briefes von Dörner kapiert. Und mich dann wirklich am Riemen gerissen und gesagt: „Okay, also entweder Du bist krank. Dann gehst Du zum Doktor und lässt Dir helfen, mit der Forderung, dass es so gut wird wie möglich. Oder Du bist gesund. Dann kannst Du weiter Deine Ausbildung machen, oder studieren, Deinen Lebensunterhalt verdienen. Oder was auch immer. Entscheide Dich.“

Ich: Und es dem anderen dann auch wirklich überlassen?

Heim: Ja klar. Ich hab immer gesagt: „Ausbildung, jederzeit, finanziere ich, aber Müßiggang, bei voller Gesundheit, finanzier ich nicht.“ Und das ist hart, so was durchzuhalten. Aber anders wär es nicht gegangen. Und das kommt dann auch auf die Situation an, wie weit man da gehen muss. Ich sag immer und das ist auch wichtig: „Ich darf nichts androhen, wo ich nicht felsenfest überzeugt bin, das werde ich auch durchführen.“ Wenn ich also sage, ich halte das nicht mehr aus, der muss jetzt endlich ausziehen, usw., dann kann ich gleich einen Termin setzen und sagen: „Bis da und dahin, bitte, ich kann nicht mehr. Und bis dahin bezahle ich Dir noch das und das, aber dann nicht mehr.“

Aber das darf ich erst machen, wenn ich soweit bin.

Und leider Gottes gibt es bei den Angehörigen oft die Konkurrenz: Wer ist der beste Angehörige, nämlich bei wem ist es am schlimmsten? Also wenn ich schon ein schlimmes Schicksal habe, dann muss es auch das allerschlimmste sein. Und bei vielen Profis erleb ich das gleiche. Es gibt ganz wenige, die sagen: „Mir macht es einfach Spaß.“ Ich kenn da so eine, die ist bodenständig, die ist klasse, die sagt: „Ach, ohne meine Verrückten könnt ich gar nicht sein.“ Aber das geben ganz wenige zu. Die machen das so schwer und – hach. Ich krieg das dann auch oft zu hören: „Und die Arbeit war ja auch so schwer. Und das war ja so anstrengend mit denen.“ Ich sage: „Ja, glauben Sie denn, für uns zu Hause ist das weniger anstrengend?“

Bei uns in der Gruppe wird auch viel gelacht. Und geweint. Manchmal gleichzeitig. Aber es gibt Angehörigengruppen, da ist eine große Schwere da. Denn wenn ich schon so ein schweres Schicksal habe, dann auch richtig.

Mir wird oft vorgeworfen, ich würde das verharmlosen. Ich verharmlose gar nichts. Ich weiß, was psychische Krankheit ist. Zwar habe ich keine Psychose-Erfahrung, aber, weiß Gott, ich könnte meine Depressionen auch schon mal gegen die Wand werfen. Und alles, was andere Angehörige ja auch mehr oder weniger schlimm durchmachen, hab ich alles durchgemacht.

Und trotzdem – seit ich das lockerer sehen kann, geht es auch besser.

Ich: Was hat Sie befähigt, sich über Jahre für die Anliegen der Angehörigen zu engagieren?

Heim: Ich war immer schon auch ein politischer Mensch, oder wie man das nennen will. Es ist auch ein bisschen Größenwahn dabei wahrscheinlich. Ich hatte immer das Gefühl, ich möchte mithelfen, die Welt ein bisschen bewohnbarer zu machen. Es hat auch was mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun.

Und man muss ein Stück die Fähigkeit haben, vom Eigenen zu abstrahieren. Oder das Eigene zu verallgemeinern. Ein Beispiel dazu: Als mein Sohn dann endlich mal in der Klinik war, und da war irgendwas mit dem Essen gewesen. „Das gibt’s doch nicht, das darf doch nicht wahr sein“, und dann nehme ich das und fange an: Dann will ich es genau wissen. Und wenn ich das dann nicht gut finde, dann versuche ich halt, was zu verändern. So.

Mein Sohn kann sich selber wehren. Aber ich finde es strukturell nicht in Ordnung. Und dann mach ich da was. Dann ist es zwar angestoßen durch das persönliche Erleben, aber nicht nur darauf bezogen.

Es gibt bei uns den einen oder anderen Angehörigen, der auch mitarbeitet, aber nur in dem Gedanken an sich selber. Da geht es dann darum, so was dauerhafter zu machen. Da muss man von dem Eigenen das auch irgendwie wegnehmen können und sich für die Allgemeinheit öffnen. Das Gemeinwohl im Blick zu haben, aber die eigene Erfahrung da mit einzubringen. Ich bin als Schwäbin natürlich auch ein wirtschaftlich denkender Mensch. Lacht Für mich alleine würde sich das ja gar nicht rentieren. Wenn, dann muss es gleich allen zugute kommen.

Ich kann nichts tun, womit ich mich nicht identifiziere. Beziehungsweise, wenn ich was mache, dann mache ich es mit Haut und Haaren. Und es ist mir dann völlig wurscht, ob mir das nun Prestige bringt oder nicht, und ob ich dann irgendwo anecke oder nicht, es mir mit irgendjemand verderbe oder nicht. Wenn ich das für nötig halte, dann halte ich das für nötig. Das macht mich auch sehr unabhängig letztlich.

Und ich vertrete dann allerdings auch eine sehr strenge Moral. Was ich nicht mittragen kann, da steig ich auch aus. Und wenn mich das meinen Posten kosten würde. So war das schon immer. Also wenn ich etwas mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann, dann ist Ende. Auch da ohne Rücksicht auf Verluste bei mir selber.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Top