Eine Befragung von Zeitzeugen zu den Anfängen der Angehörigenbewegung

Sabine Hummitzsch (2002)

Diplomarbeit im Studiengang Sozialwesen an der Fachhochschule Wiesbaden

3.2 Interview Hildegunt Schütt, Bonn, S. 38-50

3.2.1 Vorstellung der Person

Hildegunt Schütt wurde am 27. August 1926 in Neumarkt in der Oberpfalz geboren und lebt seit 1950 in der Bonner Region. Sie wuchs in einem sozial und musisch geprägten Elternhaus auf. Kunst und Musik spielten von klein auf eine große Rolle in ihrem Leben. Hildegunt Schütt erhielt eine Gesangsausbildung, spielte die Orgel und sang im Kirchenchor. Sie engagierte sich in der Jugendarbeit, studierte Musik und wurde Kinderkrankenpflegerin. Ihr Ehemann, ein Architekt, starb 1996 mit 72 Jahren an Krebs. Aus ihrer langjährigen Ehe stammen acht Kinder. Eine Tochter ist psychisch krank und lebt heute bei ihrer Mutter in der Einliegerwohnung. Ihre verheirateten Geschwister halten zu ihr und sind eine wichtige Anlaufstelle für die erkrankte Schwester.

Frau Schütt gehört zu den Urmüttem der Angehörigenbewegung. Sie war die erste Vorsitzende des 1985 gegründeten BApK. Dieses Amt füllte sie acht Jahre engagiert und erfolgreich aus, keine einfache Aufgabe in der durchaus schwierigen Aufbauphase, in der es galt, Strukturen zu schaffen und die teils eigenwilligen Landesverbände unter einen Hut zu bekommen. Heute noch ist sie Ehrenvorsitzende des BApK.

Neben dem Engagement im Bundesverband steht der Name Hildegunt Schütt ebenso für den Bonner Verein „Hilfe für psychisch Kranke e.V. Bonn/Rhein-Sieg“, den sie 1980 mitbegründet hat. Heute noch ist die 75jährige dort stellvertretende Vorsitzende. 1983 war sie Initiatorin eines Arbeitstrainings für psychisch kranke Menschen. Daraus sind bis heute auf dem ersten Arbeitsmarkt cirka 30 Arbeitsplätze entstanden. Als der BApK 1990 Gründungsmitglied des europäischen Angehörigenverbandes EUF AMI wurde, war Hildegunt Schütt dabei und gehörte zu den Unterzeichnern der Gründungsurkunde.

Ich besuchte Frau Schütt – sie war meine zweite Interview-Partnerin – am Montag, 14. Januar, zu Hause. Unser Gespräch dauerte gut vier Stunden. Hildegunt Schütt ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie maßgeblich am Aufbau der regionalen Angehörigenarbeit und des Bundesverbandes beteiligt war.

Nomen est Omen, meint Frau Schütt. Der Name Hildegunt, so sagt sie, beinhalte zweimal Kampf. Und so gehöre es zu ihrem Naturell, dass sie sich den Problemen und Schwierigkeiten in ihrem Leben stelle, sie am Schopf packe und nicht lange zaudere und verzweifle. Das verdanke sie ihrem Gemüt und ihrer Religiosität.

1977 erkrankte Hildegunt Schütts Tochter. Damals begann für Hildegunt Schütt die Angehörigenarbeit. Ihr war sofort klar, dass man als Einzelner nichts erreichten konnte. Sie
wusste, die betroffenen Familien brauchten Rückenstärkung und Information.

Frau Schütt benennt zwei Hauptströmungen im BApK, die es über Jahre gegeben habe. Zum einen die therapeutische Richtung, die durch Zuwendung und Gespräche in den Gruppen die Angehörigen befähigen sollte, ihr Schicksal zu verarbeiten. Dabei tauchte ein Problem auf:
Nach einer Weile, wenn die Angehörigen einigermaßen gestärkt waren, gingen sie wieder ihrer eigenen Wege und verließen die Gruppen. Dadurch gab es wenig kontinuierliches Arbeiten. Frau Schütt stand, wie sie sagt, für die zweite Strömung innerhalb des Verbandes:
Angehörigengruppen schlossen sich zu eingetragenen gemeinnützigen Vereinen zusammen, um konzeptionell und langfristig planen und arbeiten zu können.

Hildegunt Schütt wünschte sich den Zusammenhalt zwischen Landesverbänden und Bundesverband, was sich im Laufe ihres achtjährigen Bundesvorsitzes oft als schwierig und zäh
erwies. Neben dem Selbsthilfegedanken für Angehörige war es ihr immer ein Anliegen, auf Bundesebene eine effiziente Verbandsstruktur aufzubauen, getragen von den Landesverbänden.

Beharrlich sollte ihrer Meinung nach der Bundesverband seine Ziele abstecken und verfolgen. Es sei wichtig, in den zuständigen Gremien zu sitzen, um so die Anliegen der Angehörigen an die richtigen Stellen zu transportieren und in die Sozialgesetzgebung einfließen zu lassen. Frau Schütt ist der festen Überzeugung, dass auch heute auf den BApK nicht verzichtet werden kann und darf.

3.2.2 Auszüge des Interviews

Schütt: Ich bin Ehrenvorsitzende des Bundesverbandes für Angehörige psychisch Kranker, habe ihn mitgegründet 1985 und war acht Jahre lang Vorsitzende im Aufbau des Bundesverbandes.

Ich: Wann erkrankte Ihre Tochter?

Schütt: Das war so um das Abitur. Das war 1977. Also die ersten Symptome, im Rückblick gesehen, sind sicherlich schon früher auf getreten. Das waren manische Phasen, die man noch nicht so einschätzen konnte. Und aufmerksam sind wir eigentlich erst durch eine depressive Phase geworden. Als sie nichts mehr tat und nichts mehr aß.

Später ging das dann noch einmal in eine furchtbare Hektik über, wo sie überhaupt nicht zur Ruhe kam. Das hat sich natürlich auf die Familie immens ausgewirkt. Das hat auch unseren jüngsten Sohn fast ein Schuljahr gekostet. Er war gerade ins Gymnasium gekommen, und ich hatte gar keine Zeit mehr. Und das war dann auch der Anlass, dass unsere Tochter in die Klinik ging. Eigentlich freiwillig auf Anraten der Ärztin, die doch so viel Zugang zu ihr fand.

Ich: Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen den Geschwistern in der Familie?

Schütt: In der Familie blieben die Kinder ihr zugewandt. Auch jetzt, wo sie eigene Familien haben. Sie hat natürlich viel Zeit zum Grübeln. Und dann ruft sie schon mal dort bei dem einen oder andern an, vielleicht auch mal öfter, und dann haben die auch Geduld. Manchmal sagen sie aber auch: „Hör mal, du kannst nicht erwarten, dass wir ständig deinen Akku füllen. Du musst auch selber was tun. Und das finde ich ja auch sehr gesund, dass immer wieder solche Anstöße und Forderungen an sie herangetragen werden. Und sie tut das dann auch. Und wenn sie vernünftig mit ihrer Medikation umgeht, dann ist sie auch ein Mensch, der was bringt und der sehr liebenswürdig ist.

Ich: Sie haben gesagt, dass Ihre Kinder früher wie Pech und Schwefel zusammengehalten haben und auch Ihr Mann alles mitgetragen hat?

Schütt: Ja. Auf jeden Fall. Auch in meiner Nachbarschaft habe ich mich nie verstecken müssen mit meiner Tochter. Die Kinder sind zusammen aufgewachsen. Als dieser Einbruch kam, da waren alle Nachbarn offen für mich und auch für sie. Wenn sie auch manchmal genervt waren, aber das Verhältnis blieb gut.

Ich: Glauben Sie denn, dass Ihre Rolle als Angehörige einer psychisch kranken Tochter auch irgend etwas Positives gehabt hat? Kann man dem überhaupt etwas Positives abgewinnen?

Schütt: Also, ich muss ehrlich sagen, sozial eingestellt war ich immer und sind auch viele meiner Kinder. Ich denke, es hat schon was gebracht. Es erweitert den Blick. Ich bin durch den Bundesvorsitz in ganz Deutschland zu Hause und kenne überall Leute, mit denen ich mich gut verstehe.

Ich: Was macht Ihre Tochter zur Zeit? Ist sie in der Gemeindepsychiatrie eingebunden?

Schütt: Ja, ganz lose. Da ist so ein aufsuchender Dienst. „Begleitender Dienst“ nennt sich das. Und wenn sie will, dann kommt jemand, und wenn sie nicht will, dann lässt sie es. Dann kriegt sie mal ein Kärtchen und mal einen Gruß. Also es ist im Moment ganz locker. Wie es mal wird, wenn ich nicht mehr bin, weiß ich nicht. Sie hat jetzt nach fünf Jahren Pause wieder begonnen zu arbeiten, knapp fünfzehn Stunden.

Ich: Wissen Sie, was Ihre Tochter von den Angehörigen hält?

Schütt: Manchmal ist es ihr zuviel, und sie sagt: „Warum gehst du da immer hin?“ Aber manchmal geht sie auch mit, wenn irgendwo etwas Nettes los ist oder so. Jetzt im Augenblick ist sie wieder ein bisschen zurückhaltender, aber das ist auch sehr wechselhaft.

Ich: Sie sind bestimmt stolz auf Ihre Familie?

Schütt: Ja, bin ich auch. Weil sie alle Abitur oder Fachabitur geschafft haben. Und das war auch mein Ziel, jedem Kind gerecht zu werden. Es zu fördern, wo Anlagen da sind, und halt auch loszulassen, wo es nötig ist.

Ich: Wie kam es zur Gründung des Bundesverbandes? Was gab den Ausschlag?

Schütt: Es gab Angehörige versteckt im „Dachverband Psychosozialer Hilfsvereinigungen“ und zwar bei den Bürgerhelfern. Das war in der Zeit von 1980, kann man sagen. 82, 83, da hat der Dachverband schon mal versucht, Angehörige in einer Tagung zusammenzufassen. Das war doch damals so: Wenn die Angehörigen sich äußern mussten, brachen die meisten in Tränen aus. Die Belastung und die Nerven sind nicht mehr die besten, wenn man nicht weiß, welche Hilfen man überhaupt bekommen kann.

Denn meistens sind die Angehörigen ja die letzten gewesen, die angehört wurden. Nach wochenlangem Plagen mit dem Auftreten der Neuerkrankung waren die Nerven der Angehörigen strapaziert. Da konnten sie sich dann oft weniger gut darstellen, wenn sie mal einen Fachmann zu fassen bekamen, als der Betroffene selber. Man hat manchmal schon gespürt, dass die Profis dachten: Eigentlich sind‘ s die Angehörigen, die krank sind.

Und wie es dazu kam, überhaupt den Angehörigenverband zu gründen: Das hat sich eigentlich aus dem Sprecherkreis ergeben, der sich gebildet hat, nachdem verschiedene Tagungen mit Angehörigen gelaufen waren. Als eine gute Entwicklung der Arbeit des Bundesverbandes ist meines Erachtens erst einmal anzusehen, dass die Angehörigen ihre Sprache gefunden haben.

Ich: Sie sagten, dass Sie einen Verband schaffen wollten, der die Bedürfnisse in die Gremien trägt, damit die Anliegen an die richtigen Stellen kommen. Ist das so richtig?

Schütt: Ja, da gab es in der Entstehung der ganzen Angehörigenarbeit das Bemühen, erst mal therapeutisch zu helfen. Das waren dann Gruppen mit sechs bis zwölf Leuten, wo man hoffte, die Bedürfnisse auffangen zu können. Wir nannten das eben therapeutische Gruppen. Die sind oft jahrelang gut gegangen, aber zum Teil haben sie sich immer wieder erschöpft. Die Leute sind weggeblieben. Es ist vielleicht ein ganz kleiner Stamm geblieben, der sich gut verstand und dann vielleicht immer wieder zusammenkam.

Aber für mich war von Anfang an klar, dass man eigentlich mehr braucht. Man müsste zusammen bleiben. Man müsste auch eine gewisse Verpflichtung haben, um zusammen zu bleiben. Und das geht eigentlich nur mit einem Verein. Und wir in Bonn haben uns z.B. sehr schnell entschlossen, einen Verein zu gründen mit einem Vorstand, der sich dann auch Aufgaben gestellt hat.

Der Bundesverband ist auch aus dem Bedürfnis entstanden, erst einmal die Angehörigen insgesamt vertreten zu können und auch ein Dach zu bieten, unter dem sie sich sammeln konnten. Wo man die Bedürfnisse der Angehörigen aufnehmen konnte, um sie weiter zu transportieren. Und das führt dann auch sehr schnell an die Stellen, wo etwas bewirkt werden kann: nämlich neben der Politik die Ministerien und die Ämter, die dafür verantwortlich sind.

Ich: Was gab letztlich für Sie den Ausschlag, sich in der Angehörigenarbeit zu engagieren?

Schütt: Als meine Tochter erkrankte, war mir sofort klar, dass man als einzelne nichts ausrichten kann. Dass eine Familie ohne Rückhalt – und wo sollte der damals herkommen? – allein auf verlorenem Posten stand. Das war der Beginn meiner Angehörigenarbeit. Mir war klar, dass es wichtig ist, dass Angehörige sich zusammenschließen und gemeinsam ihre Interessen vertreten.

Ich: Sie erlebten damals, als Ihre Tochter erkrankte und Sie schon jahrelang in der Praxis einer Psychiaterin tätig waren, auch dadurch Verbindungen hatten, dass eine Psychiaterin zu Ihnen ins Haus kam. Diese aufsuchende Arbeit wird ja heute noch von den Angehörigen gefordert. Können Sie dazu noch mal kurz etwas sagen?

Schütt: Ja. Das ist mir natürlich damals gar nicht so aufgegangen, dass das anderen Angehörigen fehlt. Ich war sehr froh, dass sie kam und mir das auch angeboten hat, weil man ja sehr verunsichert ist in dieser ganzen Zeit.

Es gab noch gar keine Diagnose und gar nichts. Meine Tochter bekam einfach nur eine Spritze, und es musste beobachtet werden, ob da Schwierigkeiten auftreten. Wenn dieses und jenes passiert, dann wollte die Ärztin eben kommen. Und das war für mich schon eine große Beruhigung. Und auch andere Verhaltensmaßregeln kannte ich durch meine Arbeit oder erfuhr ich auf Anraten der Ärztin. Meine Tochter konnte damals zuerst auch zu Hause bleiben.

Erst hat man gesagt: „Ja, das ist eine Entwicklungsstörung.“ Das hören wir ja in unseren Gruppen auch immer wieder. Und immer wieder passiert es, dass wir im Laufe so einer Entwicklung, dieser phasenhaften Verläufe, unterschiedliche Diagnosen hören. Das ist ja gang und gäbe. Erst hören sie schon mal nix, weil die Ärzte auch vorsichtig sind bei jungen Menschen, denen da gleich mit so einem Hammer zu kommen.

Ich: Das ist ja grundsätzlich auch richtig.

Schütt: Ja, das würde ich auch so sehen. Ich hätte mich vielleicht auch verwahrt, wenn mir da gleich jemand was Knallhartes um die Ohren gehauen hätte.

Ich: Sie sagten vorhin, als Ihre Tochter krank wurde, da wussten Sie das schnell einzuordnen. Ich glaub, da war der Onkel Ihrer Mutter, der eine Katatonie hatte?

Schütt: Ja. Es hat mich daran erinnert und mir schwante schon, dass das, wenn es in diese Richtung geht, eine ganz, ganz schwierige Sache wird. Durch meine Zusammenarbeit mit
Psychiatern wusste ich natürlich mehr als jemand, der davon völlig überrascht wird.

Ich: Sie sagten, Sie haben acht Kinder. Das ist eine wirklich große Familie.

Schütt: Ja, das war auch mit ein Grund, dass ich einen sehr bewussten Standpunkt hatte, um Schuldzuweisungen, die ja doch immer irgendwie zu spüren waren, begegnen zu können. Ich habe immer gesagt: „Wieso soll ich bei einer was falsch gemacht haben, wo die andern alle das Leben gepackt haben und ein gutes Verhältnis zur Familie haben?“

Ich konnte das Ganze auch tragen durch den Zusammenhalt mit meinem Mann und durch die anderen Geschwister. Durch die gesunden Kinder, das hat ja auch was ausgemacht. Dass ich mir nicht hab sagen lassen müssen, ich hätte so viel falsch gemacht, dass da nichts Gescheites hätte rauskommen können.

Ich: Wäre das viel schwerer gewesen, wenn Sie nur zwei Kinder gehabt hätten oder nur eins?

Schütt: Ja. Das mit Sicherheit. Ich kann mich gut an Tagungen erinnern in der Landesklinik, eine Psychologin aus der Universität, die hatte dann das Thema drauf: „Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen.“ Und da ging es dann auch drum, was sie alles falsch gemacht hätte, und dann brachte sie von sich Beispiele usw. Es waren sehr viele Angehörige da vertreten. Die standen plötzlich auf und sagten: „Wir können es nicht mehr hören.“ Da hat sie gesagt: „Wenn ich gewusst hätte, dass hier so viele Angehörige sind, hätte ich es anders konzipiert.“ Lacht Aber der Grundgedanke war da.

Als Nachwehen der 68er Jahre war es schon so, dass man dem Establishment und somit auch der Familie immer Fehlverhalten vorgeworfen hat. Da habe ich schon Stellung bezogen. Und mein Eindruck war, wenn alle Angehörigen – und das hat sich eben später gezeigt, dass es sehr viele gab, die hilflos waren – eine Unterstützung von Profis, so eine partnerschaftliche Unterstützung finden könnten, wie sie mir geboten wurde, das würde sehr viel erleichtern.

Das ist natürlich immer das Dilemma. Wenn sich Situationen schon zugespitzt haben, der Betroffene, sagen wir mal, sich von den Familien oder den Eltern entfernt, dass der Arzt dann Schwierigkeiten hat, das Vertrauen des Patienten zu behalten, wenn er anderen etwas über ihn erzählt. Da muss man irgendwie einen Weg finden, dass man gemeinsam spricht oder wenigstens die Erlaubnis von dem Betroffenen erhält, sich mal mit dem Arzt unterhalten zu können. Denn die Ausrede, ich verliere das Vertrauen meines Patienten, das ist ja heute noch gang und gäbe.

Ich habe Verhaltensweisen von Psychiatern kennengelernt Angehörigen von psychisch Kranken gegenüber, die ganz abwehrende Gesten machten, wenn nur das Gespräch auf die Angehörigen kam. Das schien mir sehr deprimierend, wo man doch Hilfe brauchte. Andererseits wieder wurde mir dann gesagt: „Lesen Sie nicht so viel, das schadet nur.“ Mir hat Lesen aber geholfen.

Ich: Gab es damals in der Anfangszeit Information für Angehörige?

Schütt: Nur sehr wenig. Als wir unseren Bonner Angehörigenverein gründeten, war das ein wichtiger Punkt. Da haben wir gesagt: „ Wir brauchen Informationsaustausch und Information von Profis.“ Wir hatten Glück. Es gab eine Ärztin in Bonn, die aus Bulgarien kam. Die war es von dort her gewohnt, Hausbesuche zu machen und Angehörige wahrzunehmen. Sie hat uns sehr unterstützt. Wenn sich bei uns Fragen im Angehörigenkreis gesammelt hatten, konnten wir sie anpiepsen, und sie kam. Und es gab dann immer eine sehr lebhafte Diskussion.

Ich: Welche Widerstände gab es gegen die · Angehörigenbewegung damals, als die ersten Angehörigen sich zusammenschlossen? Noch vor dem Bundesverband.

Schütt: Ich denke, es waren eher persönliche Vorbehalte von diesem und jenem. Abgesehen mal von bestimmten Ärzten, die Abstand halten wollten, waren es auch Hilfsgruppen wie Klubs, die, als ich das erste Mal da war, sehr komisch geschaut haben und dann flüsterten: „Jetzt kommen auch schon die Angehörigen.“

Das war aber, denke ich, nicht das Primäre, dass die Angehörigen sich zusammengeschlossen haben, sondern meines Erachtens war der Druck auf die Familien und besonders auf die Frauen sehr groß. So kamen auch sehr viele Frauen als erste in die Angehörigengruppen. Und ich habe es oft erlebt, dass die Männer den Frauen sogar verboten hatten hinzugehen, als unser Verein schon bestand. Erst ganz langsam sind dann die Männer dazugekommen. Abgesehen von wenigen, die sofort begriffen haben, dass man da mehr tun muss als nur eine Klagemauer zu bieten.

Ich: Wie war das damals in den 70ern und frühen 80ern?

Schütt: Das hat doch länger gedauert, bis sich in den Gemeinden etwas formiert hat. Es gab ja auch von den Stellen und der Bezahlung her außerhalb der Kliniken nichts.

Ich entsinne mich gut an eine Tagung in Berlin. Da sprach mich ein Arzt an und sagte: „Ich möchte an unserer Klinik eine Angehörigengruppe haben. Würden Sie mal kommen? Aber alles, was ich außerhalb der Klinik mache, stehle ich eigentlich der Zeit dort.“

So, denke ich mir, ist die Angehörigenbewegung und vor allem die Psychiatrie-Enquete erst mal in Gang gekommen. Dass die Ärzte rausgegangen sind und auch draußen mitgemacht haben. Zum Beispiel hat sich 1980 gleichzeitig mit uns der Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie gegründet. Da waren Ärzte, Sozialarbeiter, ein paar Psychologen, die haben sich halt erst mal zusammengefunden. Und das hat sich ja auch später zum multiprofessionellen Team entwickelt.

Ich: Also gab es damals noch keine Gemeindepsychiatrie?

Schütt: Damals nein.

Ich: Und in der Klinik auch noch keine Angebote für Betroffene und Angehörige?

Schütt: Nein, nein, da gab es nichts. Ich kann mich noch gut entsinnen, wie oft wir da gesessen haben mit drei Männeken und versucht haben, irgend etwas in Gang zu bekommen. Oder wie oft der Bonner Verein irgendeinen Anlauf genommen hat, z.B. eine Backstube einzurichten mit Cafä oder sonst was. Das ist am Anfang alles daneben gegangen – und heute hat der Bonner Verein einen Riesenumsatz. Und bietet ein dichtes Netz an ambulanten Hilfen.

Ich: Schreiben Sie da der Angehörigenbewegung eine Bedeutung zu? Dass die Angehörigen vieles in Gang gebracht haben?

Schütt: Ja. Da bin ich überzeugt von. Erstens mal hatten die Angehörigen durch eine Gruppe oder einen Verein einen besseren Rückhalt, wenn sie sich gegenüber den Profis vertreten mussten. Sie wurden ganz anders wahrgenommen. Das war schon mal ein Punkt.

Und es hieß ja dann, in die Gremien sollten Angehörige, um die Belange der Betroffenen zu vertreten. Das war in der Zeit, bevor die Betroffenen selbst sich formiert haben. Und da war es schon eine Aufgabe für die Angehörigen zu wissen, was sie verlangen sollten und was sie sagen sollten.

Das hat dazu geführt, dass Seminare und Tagungen stattfanden, wo man nun gegenseitig das Wissen austauschte und von Fachleuten Informationen bekam. Und wo dann auch Politiker eingeladen wurden, die dann mal Statements abgeben mussten: Was sie überhaupt darüber denken über die ganze Psychiatrie und über die Angehörigen insgesamt usw. Das war schon eine große Entwicklung, dass die Familien überhaupt wahrgenommen wurden.

Die Aufbauzeit des Bundesverbandes war ja erst mal, ein Dach zu bieten. Dass Angehörige sich hinter ihre Bedürfnisse stellten, sich äußern konnten und das auch festgehalten wurde.

Ich: Mir fällt ein, als ich Sie fragte, mit welchen Zielen sind Sie damals aufgebrochen, da haben Sie gesagt: Ich wollte in erster Linie die Angehörigen hinter dem Ofen hervorlocken.

Schütt: Ich habe aber sehr schnell gemerkt, dass das ein Weg ist, wo man sich irre verzetteln kann. Und als dann der Dachverband uns sozusagen ein Podium bot, wo man zu fassen bekam, was denn notwendig würde, und sich auch zielgerichtet an die richtigen Leute wenden konnte, das war schon eine Hilfe. Auch wenn heute der Bundesverband schon sehr selbständig dasteht, aber diese Startphase, das war ein Glücksfall für den Bundesverband in meinen Augen.

Ich: Wie verhielten sich die Psychiatrie und die dort Tätigen damals? Sie sagten auch, das Fachpersonal, also Ärzte, Pfleger, Psychologen, gingen nicht gerne raus aus der Klinik?

Schütt: Ja. Die Gesetze waren zum Teil auch so, dass z.B. Ambulanzen nicht rausgehen durften, weil die niedergelassenen Ärzte das als ihr Terrain empfanden. Das schon mal – und außerdem gab es auch Ängste. Es gab ja in der Entwicklung nach der Psychiatrie-Enquete Vorstellungen, große Krankenhäuser aufzulösen und Abteilungen an die normalen Krankenhäuser anzugliedern. Was zum Teil ja auch passiert. Und das hat natürlich manchem Angst gemacht, der in der Klinik seine feste Stelle hatte.

Aber ich vergleiche das immer mit der Zeit nach der Wende, wo wir in den Osten gingen, um dort auch Landesverbände aufbauen zu können oder die Angehörigen aufzubauen. Da haben wir auch Profis erlebt, die sahen total schwarz, die dachten, ihre ganzen Institutionen brechen jetzt zusammen, und sie sind dann arbeitslos. Und da konnte ich immer sagen: „Wenn Sie arbeitslos sind, haben Sie ja ein Auskommen und können ehrenamtlich das aufbauen, was Sie für nötig halten.“

Die ganze Gemeindepsychiatrie im Westen ist eben auch entstanden, indem einige was getan und aufgebaut haben, was sich dann als richtig erwiesen hat. Wo man dann Forderungen stellen konnte: So muss es gehen.

Ich: Was hatten denn Angehörige in den 70er, 80er Jahren für einen Stand in der Klinik?

Schütt: Also, ich würde sagen, abgesehen mal von dem Glücksfall, dass diese Ärztin Abteilungsärztin wurde in Bonn, wir dort immer Gastrecht hatten in der Cafeteria und unsere
Treffen dort abhalten konnten, war es trotzdem auf den Stationen so, dass die Angehörigen meistens nicht angehört wurden.

Ich: Wie war die Atmosphäre in den Anfangszeiten der Angehörigenbewegung und der Entwicklung der Reform- und Gemeindepsychiatrie?

Schütt: Damals wehte so ein Geist der Neugestaltung. Da gab es Leute, die hatten zusammen studiert, die hatten Vorstellungen, und die wollten sie jetzt umsetzen. Ja. So habe ich das erlebt.

Manche sind ja ziemlich gegen die 68er Bewegung. Aber ich habe selbst Kinder, die nach 68 noch studiert haben. Ich empfand die Entwicklung hin zu neuen Dingen und zu einer neuen Sicht, auch was jetzt Kliniken angeht und auch was die Bewegung, sagen wir mal, in der ganzen Gesellschaft angeht, als sehr fruchtbar. Wenn ich auch immer gehofft habe, dass die extremen Entwicklungen sich zurückbilden und das bleibt, was gut davon ist.

Und so habe ich auch die Gemeindepsychiatrie und die Entwicklung dahin erlebt. Also es hatten Leute, die zusammen studiert haben, wirklich eine Vorstellung davon, wie es aussehen muss, um einen psychisch erkrankten Menschen in seinem Lebensumfeld zu halten. Und die haben da wirklich zusammengewirkt. Ich bin heute noch glücklich darüber, dass ich diese Menschen kennengelernt habe.

Ich: Aber das waren nicht alles Mediziner?

Schütt: Nein, nein. Das waren auch, ich weiß gar nicht, welche Ausbildung die hatten. Z.B. gab es Journalisten, es gab auch Verwaltungsleute, es waren nicht nur Ärzte – aber es waren auch Ärzte. Und ich denke heute noch dran, als es hieß, unser Klinikleiter geht weg, da kriegte ich jemand vom Landschaftsverband zu fassen und sagte: „Schickt uns bitte einen Sozialpsychiater.“ Lacht. Das wünschen die Angehörigen sich, dass das weiter geht, dass das Lebensumfeld so gestaltet ist für diese Menschen, dass sie darin existieren können. Viele haben sich damals bei der Abfassung und Umsetzung der Psychiatrie-Enqete engagiert, u.a. Prof. Caspar Kulenkampff.

Ich: Welches Verständnis gab es damals in der Öffentlichkeit für psychische Erkrankungen?

Schütt: Also Verständnis gab es sehr wenig. Ich kann mich gut an Zeiten erinnern, wo wir versucht haben, uns durch die Medien mitzuteilen. Es gab ganz gute Sachen, aber es gab auch Dinge, die total danebengelaufen sind. Dort einen Fuß reinzukriegen, dass das irgendwann mal eine wirklich grundlegende Wende gibt, das finde ich, ist das Schwierigste. Was wir eigentlich als Aufgabe hätten, weil die Journalisten wechseln, und Sie kriegen gar nicht alle zu fassen. Dann stehen die unter dem Druck, was Reißerisches zu machen. Und dann bietet sich natürlich das an, was wahnsinnig auffällt: nämlich eine Gewalttat oder was Abnormes. Das wird dann immer auf die Seite der Psychiatrie geschoben. In Wirklichkeit ist es aber so, dass die meisten psychisch Kranken still vor sich hin leiden.

Ich: Wie waren denn so die Bedingungen in den Anfangszeiten der Angehörigenarbeit?

Schütt: Wir haben unter uns Angehörigen Listen rumgegeben. Mit Telefonnummern usw. Wir haben damals sozusagen unseren eigenen Beratungsdienst aufgemacht. Und manche Gespräche sind Stunden gewesen. Das haben wir dann alles privat bezahlt. Und später, als der Verein dann finanziell besser gestellt war, konnten wir auch mal Telefongebühren bekommen, Portogebühren und solche Dinge.

Ich: Was gab es damals an Hilfe und Unterstützung für die Angehörigen?

Schütt: Da gab es noch nichts. Da mussten wir Angehörigen uns untereinander helfen.

Ich: Gab es denn schon Ansätze von irgendeiner Art Reformpsychiatrie?

Schütt: Ja. Das würde ich schon sagen. Wir hatten schon Vorstellungen. Gütersloh war ja für uns durch Dörner immer ein Vorbild, und es gab auch in Österreich schon einige Entwicklungen. HPE ist eine Angehörigenvereinigung in Österreich, die erst nur die Wiener so richtig vorangetrieben haben.

Damals war ich schon Bundesvorsitzende und wurde zum zehnjährigen Bestehen der Wiener eingeladen. Da wollten die einen Bundesverband gründen und haben es vergessen vor lauter Feiern. Lachen Auf jeden Fall habe ich in meiner Rede auf den zu gründenden Bundesverband abgehoben, und da sagte der Vorsitzende dort: Gut, dass Sie mich daran erinnern. Lachen Dort war auch Prof. Dörner eingeladen. In Wien gab es den Prof. Katschnig. Die hatten auch schon so eine Art Gemeindepsychiatrie entwickelt.

Ich will nicht sagen, dass das jetzt die alleinige Wiege war. Es gab an verschiedenen Brennpunkten Entwicklungen. Und diese wuchsen immer mehr zusammen durch den Dachverband. Der sammelte nun psychosoziale Hilfsvereine, die sich mittlerweile gebildet hatten. Ich denke da an die Frau Lorenz, die ist ja auch immer zu Dachverbands Veranstaltungen gekommen. Da lernte man schon allerlei Menschen kennen. Und immer mehr bildeten sich da auch die Verbindungen für die Angehörigen heraus.

Ich: Und was führte zu Ihrer Entscheidung, dass Sie letztlich gesagt haben: So, jetzt gründe ich den Bundesverband mit?

Schütt: Also, dass ich den mitbegründe, war meine Überzeugung, dass man als einzelne nichts erreichen kann. Es war ja so vielerlei im Argen damals gewesen, das hätte man alleine nie geschafft. Mir war sofort klar, dass man die Angehörigen, die sich schon irgendwo formiert haben, sammeln muss.

Und da sagte ein Psychologe aus Marburg noch, der sich für die Selbsthilfe sehr einsetzte: „Ha, da brauchen Sie zehn Jahre für.“ Das war 1980. Wir haben fünf Jahre gebraucht. Da hatten wir den Bundesverband. Und der hat sich dann ganz gut mit Landesverbänden aufgefüllt, kann man sagen. Wenn ich es heute betrachte: Auch im Osten ist das ganz beachtlich schnell weitergegangen, dass sich Landesverbände gebildet haben. Der Thüringer Landesverband hat schon immer Kontakte gehabt nach dem Westen. Und dadurch ist das bei denen auch sehr schnell gegangen. Da bestehen heute noch ganz enge Fäden. Aber ich finde es überhaupt nach der Wende so, dass gerade, was die psychiatrischen Sachen angeht, sehr schnell eine Verzahnung stattgefunden hat.

Ich: Also nicht so ein Ost-West-Gefälle? Da ist ja die Angehörigenbewegung der Politik schon einen Schritt voraus.

Schütt: lacht. Vielleicht ist es so. Unter diesem Aspekt habe ich es mir noch gar nicht so beguckt.

Ich: Wie sehen Sie den Bundesverband heute?

Schütt: Ich glaube, dass der Bundesverband jetzt mit Herrn Speidel als Vorsitzenden an der Spitze auf einem guten Weg ist. Ich denke, dass das Gewicht, das der Bundesverband mittlerweile hat, doch zu manchem geführt hat. Wenn ich nur an die neuen Gesetzgebungen denke, so ist doch einiges eingeflossen, was Profis und Angehörige gemeinsam erarbeitet und durchgesetzt haben und durchsetzen wollten.

Der Bundesverband hat noch viel zu tun. Z.B. ist es auf Station immer noch oft so, dass die Angehörigen nicht angehört werden. Diese Klagen kommen auch heute noch. Ich will jetzt nicht gerade sagen, dass das in der Klinik gang und gäbe ist, aber es kommt immer wieder vor. Man muss auch wissen, dass manche Ärzte total frustriert sind, weil das Personal knapp ist in den Kliniken. Die sind schon sehr belastet. Und trotzdem sollten sie wahrnehmen, dass Angehörige nicht nur stören, sondern auch helfen können.

Ich: Hat sich denn da was geändert bei dem Verständnis für psychische Erkrankungen in der Öffentlichkeit von den Anfängen der Angehörigenbewegung bis heute?

Schütt: Bis heute wenig, möchte ich sagen. Es ist so: Wenn man den Mut hat, einzelne Leute anzusprechen, sie aufzuklären und etwas Bestimmtes von ihnen erwartet, wie das Arbeitstraining, das wir in Bonn machen, wo ich also wirklich die Bonner Firmen als Nachbarn angesprochen und auch Verständnis gefunden habe. Und die Firmenchefs immer
wieder sagten: „Ja, aber ich kann das meinen Mitarbeitern nicht zumuten.“ Dann war ich bei den Mitarbeitern schon gewesen und hab gesagt: „Ja, aber der und jener Mitarbeiter, der würde sich das zutrauen.“ „Ja, dann können wir das machen.“ Solche Dinge, also, dass man einfach den Mitmenschen anspricht, dann öffnet er sich auch.

Wir haben hier den Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie. Der deckt in Bonn alles ab, was man sich wünschen kann bis auf ganz geringe Lücken. Wir haben auch einen Koordinationskreis in Bonn, wo alles, was in der Gemeindepsychiatrie tätig ist, an einem Tisch sitzt. Und wo man sich abspricht, auch mit dem Sozialamt, und wo man die ausufernde Bürokratie auf ein nötiges Maß beschränken kann.

Ich: Wie wichtig ist für Sie der Aspekt der Selbsthilfe bei der Angehörigenarbeit?

Schütt: Er ist insofern wichtig, dass wir uns gegenseitig stützen. Das spart auch manche Wege, weil die Informationen schon in den Gruppen weitergegeben werden. Und Selbsthilfe bedeutet ja, dass ich mir selbst eher helfen kann, d.h. dass ich lerne, mich abzugrenzen und eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, wiederzuentdecken, wenn ich sie denn eine Zeitlang verdrängt habe, andererseits aber auch wieder den Mut finde, wenn es denn die Situation ergibt, zu sagen: „Nein. Auch wenn ein bestimmter Trend in die Richtung geht, für mich sieht es jetzt so am Besten aus.“ Dass ich mich auch traue, das zu vertreten.

Denn ein Rezept, sagen wir mal, für Angehörigenverhalten oder für den Umgang mit dem Betroffenen gibt es ja wohl nicht. Da gibt es zwar bestimmte Kriterien, aber kein direktes Rezept. Ich denke, diese Reibung mit dem Für und Wider in bestimmten Situationen, die findet ja in Angehörigengruppen statt. Und das hilft einem ja auch sehr viel weiter.

Extreme Entwicklungen, die der Angehörigenverband hätte nehmen können, haben sich dabei, sag ich mal, abgeschliffen in dieser Diskussion und der ganzen Entwicklung. So dass der einzelne Angehörige, der unter Druck steht und dabei manchmal über das Ziel hinausschießt, von anderen aufgefangen wird und die Dinge wieder ins Lot kommen.

Ich: Wie wichtig sind für Sie Angehörigengruppen?

Schütt: Für den einzelnen Angehörigen finde ich es sehr stützend. Weil Sie einfach jemanden im Rücken haben und ganz anders wahrgenommen werden. Es traut sich auch keiner, zu Ihnen unverschämt zu sein, was früher schon stattgefunden hat. Wenn da eine Vereinigung dahinter steht, ist das anders.

Also, ich denke, für neu Hinzugekommene ist es ganz wichtig, dass die sich aussprechen können, dass man ihnen die Zeit auch gibt und zuhören kann. Und ich denke, es gibt dann eine Zeit, wo ein Schritt weitergegangen werden muss. Dass es sich nicht immer im Kreise dreht. Wir sprechen die Angehörigen dann auch an und sagen: „Man kann nicht nur herausnehmen, man sollte auch was reinbringen.“ Und dieses Wechselspiel, denke ich, hält so einen Verein auch am Leben.

Ich: Ich nehme an, auch heute ist die Angehörigenarbeit für Sie nicht wegdenkbar? Was sind Ihrer Meinung nach die vordringlichsten zukünftigen Aufgaben des Bundesverbandes?

Schütt: Ich denke, die Aufgabe ist zu beobachten, welche Bedürfnisse kommen aus den verschiedenen Landesverbänden und Gruppen, und wo führt das hin. Wohin transportiert der Bundesverband das? Und es ist vor allem immer notwendig, dass man die Entwicklungen in der Psychiatrie und in der Politik beobachtet.

Ich glaube, dass da Seminare, Bundestagungen, usw. sehr hilfreich sind. Ich erlebe es ja immer wieder, dass viele neue Ärzte z.B. oder auch jüngere Politiker wenig wissen.

Und mein Reden und meine Bedenken gehen auch immer dahin, dass das, was wir errungen haben, bewahrt werden muss, und dass man das auch in die andere Generation weiter- und hineintransportieren muss. Das müssen sowohl die Sozialpsychiater als auch die Angehörigen dann bewältigen.

Ich: Was wünschen Sie sich für seelisch kranke Menschen?

Schütt: Ich bringe Ihnen ein Beispiel: Ein Glücksfall wäre so eine Einrichtung, wo eine Mutter ihren Sohn untergebracht hat bei Erlangen. Das ist eine anthroposophische Sache, wo es anfangs auch sehr schwierig war, wo die Betreuer meinten, das schaffen sie nicht. Der hat aber so gut Fuß gefasst, das ist so ein gutes Verhältnis geworden. Er singt im Chor und er macht beim literarischen Zirkel mit und kommt im Urlaub und fährt auch gerne wieder dahin und sagt: „Ich fahr jetzt wieder nach Hause.“ Und das finde ich was Tolles.

Es ist eine sehr gut geführte Sache, die auch sehr auf musische Stützen baut. Und die sind nicht irgendwie orthodox da. Das kann der gar nicht so mitmachen, und da legen die auch gar keinen Wert drauf. Die Grundhaltung ist das halt da.

Und ich wünsche mir auch immer, dass es so, wie z.B. in Hessen, bestimmte Wohnformen gibt, Einfamilienhäuser, wo vielleicht zwei, drei Leute drin wohnen könnten. Wo jeder seine Terrasse oder seinen Balkon hat, Grünanlagen drum rum sind, Gemeinschaftsräume sind, die man nutzen kann, wenn man möchte. Wo man sich aber auch zurückziehen und selbständig leben kann. Das gibt es ja auch für alte Menschen, wo jedes Angebot der Hilfe da ist, aber nicht genutzt werden muss. Und das würde ich mir für seelisch kranke Menschen wünschen. In München gibt es ja ein Projekt, da hat eine Angehörige, die Vermögen hat, einen ganzen Häuserkomplex „Wohnen mit Behinderten“ erstellt, auch für psychisch Behinderte. Wer das kann. lacht Aber so viel Geld hab ich nicht.

Ich: Was hat Ihr Engagement in der Angehörigenbewegung bewirkt? Wem hat es geholfen? Natürlich eine etwas schwierige Frage.

Schütt: Tja. Wem hat es geholfen? Also, ich denke, es hat uns allen geholfen. Nicht nur mein Engagement, sondern überhaupt das Engagement der Leute, die mitgearbeitet haben. Das war schon ein Glücksfall, dass das so aufeinandergetroffen ist.

Dass das Engagement etwas gebracht hat, sagt sogar meine Tochter. Die sagt zu mir: „Ich habe ja nicht viel geleistet.“ Und da sag ich: „Und was siehst du positiv?“ „Ja. Das einzige, dass du dich so eingesetzt hast.“ Dabei ist es doch ein Kampf, mit dieser Krankheit zu leben und fertig zu werden. Und immer wieder von vorne anzufangen. Doch immer wieder morgens aufzustehen.

Ich: Was würden Sie aus heutiger Sicht anders machen? Oder würden Sie es noch einmal genau so machen?

Schütt: Ja. Ich glaube, das liegt in meinem ganzen Wesen und Temperament. Mein Name heißt Hildegunt: zwei Mal Kampf. Ich habe das immer als eine Aufgabe gesehen, als die Tochter krank wurde. Als ein Problem und eine Aufgabe, die es zu bewältigen gab. Irgendwie.

Ich: Also würden Sie es noch mal machen?

Schütt: Ja. Würde ich.

Ich betrachte es als eine Art Gnade. Dass ich daran nicht zerbreche und darüber hinaus anderen vielleicht noch helfen kann. Auch wenn in meiner Familie jetzt Schwierigkeiten auftreten, ich werde nicht kopflos, sondern ich überlege: „Wie kann ich helfen?“ Und ich freue mich, wenn ich immer wieder die Kraft finde. Das hält mich auch wach, denk ich mal.

Ich sag Ihnen ja, das ist das, was ich an Religiosität in mir empfinde. Mir sagen manchmal die Leute: „Sie sind viel zu bescheiden.“ Ich sag: „Ich brauch ja auch nicht viel.“ Und ich habe es auch nicht nötig, dass ich mir irgendwo was umhänge. Aber wo ich auftreten muss, da trete ich dann auch auf.

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