Mucha: Ich habe jetzt Zeit nach dem Tod meiner Schwester. Zum ersten Mal ist mir das so bewusst geworden. Ich bin immer heim gekommen … Und jetzt ist niemand da. Und da bin ich furchtbar traurig. Ich meine, die Trauer muss ich verarbeiten, das ist klar, aber parallel dazu bin ich erstaunt, dass ich jetzt eigentlich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben frei bin und nicht mehr fremdbestimmt.
Ich: Wie alt sind Sie jetzt, Frau Mucha?
Mucha: 78. 78 Jahre muss man werden, um nicht mehr fremdbestimmt zu sein. Da kommst du auf die Welt und hast deine Eltern über dir. Du heiratest, hast einen Ehemann und Kinder. Dann sind meine Eltern gestorben, und ich habe meine Schwester übernommen. Dann ist mein Mann vor elf Jahren gestorben und jetzt die Schwester. Und bis dato war ich fremdbestimmt.
Das ist einfach so. Ich glaube, das überlegen sich die wenigsten Frauen. Man sucht sich seine Freiräume. Für mich war die Angehörigenarbeit eigentlich auch ein bisserle Freiraum. Aber das wird mir jetzt bewusst, und eigentlich habe ich es noch gar nicht erfasst. Das erzähle ich mir zwanzig Mal am Tag: „Und wenn du willst, kannst du jetzt zu der Haustür hinausgehen. Du kannst jetzt echt, echt machen, wie du willst.“ Das ist ein ganz eigenartiges Gefühl. Es war immer was. Also fremdbestimmt in Anführungszeichen – und das bin ich jetzt nicht mehr.
Ich: Ihre Schwester ist einfach eingeschlafen, sagten Sie?
Mucha: Ja. Einfach eingeschlafen. Ganz friedlich. Und ich war noch nicht einmal da. Ich war am Samstag im Allgäu bei einer Angehörigentagung von den Bayern von Kempten. Man hat aber gemerkt, da vor vierzehn Tagen in der Woche: Was ist mit meiner Erika los? Sie ist so ruhig geworden. Sie hat sich davon geschlichen. Aber mein Sohn war da und seine Partnerin.
Ich: Da bin ich froh, dass Sie sich trotzdem Zeit für mich nehmen, auch wenn Ihre Schwester erst letzte Woche gestorben ist.
Mucha: Wissen Sie warum? Weil ich wirklich sehr gerne mal wieder bisschen in Erinnerung bringe, was war. Das weiß man nämlich nimmer. Denn alle die, die Anfängergeneration von den Angehörigen, die geht weg.
Und dann gab’s so ne Mittelschicht, und die haben gesagt: „Jetzt hört bitte davon auf, wie ihr angefangen habt. Das waren ganz andere Zeiten.“ Lachen Da war die Vergangenheit weg. Ich werde den Teufel tun und beim Bundesverband von der Vergangenheit anfangen. Aber man sollte sie nicht vergessen.
Sie haben bestimmt schon gemerkt, dass ich sehr ungeschminkt rede.
Ich: Das ist gut.
Mucha: lacht Ich werde Ihnen die Wahrheit, nur die Wahrheit sagen. Und wie wir Angehörigen empfunden haben, und wie wir behandelt wurden. Was uns wirklich so auf die Palme gebracht hat.
Ich: Alles andere interessiert mich auch nicht.
Mucha: Dann ist alles klar. Lachen
Ich: Wann waren denn für Sie persönlich die Anfänge der Angehörigenbewegung? Mich interessiert Ihre Geschichte. Wie fing die an?
Mucha: Meine Geschichte der Angehörigen fing 1970 an. Das war im Sommer. 1970 kam ich das erste Mal zu einer Angehörigentagung. Die war damals in Urach. Das ist auf der Schwäbischen Alb. Da müssen wir doch bissele chronologisch vorgehen. Die Evangelische Akademie Bad Boll hat seit 1969 einmal im Jahr zu einer Angehörigentagung eingeladen. Und meine Schwester war 1970 in der Psychiatrie. Und da sagt die Ärztin zu mir: „Sie, Frau Mucha, für Sie hab ich was“ und drückt mir ein Faltblatt in die Hand mit der Einladung zu der Angehörigentagung.
Und die Tagung leitete damals die Elisabeth Harmsen. Und das ist jetzt der Ursprung. Die kam hierher nach Stuttgart, sie war aus dem Osten aus Mecklenburg. Sie fand hier eine Stelle beim Diakonischen Werk, und einer ihrer Söhne wurde schizophren.
Und dann lernte sie die damalige Zeit in den Kliniken kennen und sagte: „Das gibt’s doch nicht. Jetzt muss auch etwas für die Angehörigen getan werden.“ Das war ihre Intention. Und sie hatte nun die Möglichkeit durch ihren Beruf beim Diakonischen Werk an die Evangelische Akademie Bad Boll heranzugehen, und hat dann versucht, da einzuladen. Und dann ist sie an die Krankenhäuser herangetreten. Sonst hat’s ja nichts gehabt.
Und so fing das 69 an. Da kamen die ersten Stuttgarter, das waren vielleicht zehn Familienangehörige, die sich da kennenlernten in Bad Boll. Die haben gesagt: „Wir müssen mal
miteinander reden.“ Und dann haben die sich in sporadischer Reihenfolge in Stuttgart untereinander und mit der Frau Harmsen getroffen. Und dann kam 70 eine Tagung in Bad Boll und im selben Jahr noch eine. Da waren schon sehr viele da.
Und zwar hat die Frau Harmsen das alles an die psychiatrischen Krankenhäuser in ganz Württemberg geschickt. Wir hatten damals hier Stuttgart, dann Weinsberg, Winnenden,
Christofsbad bei Göppingen, Schussenried. Und dann noch die badischen Kliniken, die Adressen hat sie sich auch alle besorgt. Und siehe da, wenn dann von jedem Krankenhaus bloß zwei Angehörige gekommen sind, oder drei … Und darum waren wir schon immer flächendeckend in Württemberg. Und die Ulmer, die hingen ja mit Schussenried (Psychiatrische Klinik) zusammen.
Und das war nun der Anfang. Und da kam ich 1970 dazu, wo schon mindestens so sechs, sieben Angehörige aus Stuttgart da waren und eine Dame aus Ulm usw. Die habe ich da kennengelernt. Und was die erzählten und wie das war. Da bist du beinahe abgehoben, ich war so hoch vom Boden weg. Es war für mich das Erlebnis überhaupt. Mein Gott, du bist ja gar nicht allein und überall das Gleiche, überall dasselbe.
Und da haben sich die Stuttgarter schon zum Teil in Begleitung mit der Frau Harmsen einmal im Monat im Gemeindehaus der Stiftskirche in der Opernstraße getroffen. Und die haben zu mir gesagt: „Frau Mucha, Sie müssen kommen. Auf, wir brauchen Junge. Wir sind ja nur so Alte.“ Damals war ich ja noch jung vor 30 Jahren. Und so fing’s an.
Und wissen Sie, Sie können machen, was Sie wollen: Die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle: Dann wird was draus. Sonst können Sie machen, was Sie wollen: Da wird nix. Und so war es hier: Da kam zu dieser Frau Harmsen eine Frau Wingler dazu, ihre Eltern Engländer, aber sie kam über Russland nach Stuttgart. Und die beiden Damen haben sich verstanden. Das war ein Niveau. Und so ist das dann gekommen. Und dann haben wir feste mitgeholfen.
Ich: Frau Wingler hatte auch ein krankes Kind, oder?
Mucha: Ja. Und ihr Mann ist durch Suizid aus dem Leben geschieden. Ihr Sohn hat elf Suizidversuche gemacht. Sie ist im vergangenen oder vor zwei Jahren gestorben. Sie ist hoch in die 80 gewesen oder gar schon in die 90. Mit 80 ist sie die erste Angehörige überhaupt gewesen, die das Bundesverdienstkreuz bekommen hat.
Das ist in Baden-Württemberg die einzige. Wir sind also keine Ordensfanatiker so wie die in Nordrhein-Westfalen, da kriegt’s jeder. Herzliches Lachen Aber die Frau Wingler hat’s gekriegt. Und damals zur großen Freude. Und die hat damals schon die ersten Fäden gesponnen zur Stadt Stuttgart. Die hatte nun wirklich den richtigen Ton auch zu den Politikern, was ganz wichtig ist: Welche Sprache sprichst du?
Die Frau Harmsen ist dann pensioniert worden beim Diakonischen Werk in Stuttgart und hat dann – ich möchte fast sagen – missioniert in ganz Deutschland. Also in der Bundesrepublik damals. Und war auch in Nordrhein-Westfalen und in Hannover. Und wollte da, wie das eben in Stuttgart so gut gelaufen ist, überall auch Angehörigengruppen gründen. Nur hat sie nirgends dort einen Ansprechpartner gefunden wie die Frau Wingler.
Also ich sag ja, es muss schon was zusammenkommen, wenn etwas entstehen soll. Und zudem ist es in vielen anderen Bundesländern meistens von oben runtergekommen. Z.B. in Nordrhein-Westfalen war es ja der Dörner. Der hat die Angehörigen von oben nach unten gemacht. Wir sind von unten nach oben gekommen. Darauf lege ich ganz, ganz großen Wert. Das will ich immer betonen: Wir sind reine Selbsthilfe hier. Und wir haben uns die Herren geholt. Nicht die Herren haben uns betütelt.
Ich: Ich war auch bei Fridburg Lorenz in Heppenheim.
Mucha: Das ist auch so ein Urgestein. Was, die existiert auch noch? Herzliches Lachen Die Frau Lorenz aus Heppenheim. Die war auch in Bad Boll. Ja, ja. Das ist auch eine der ersten Stunde.
Ich: Und zum Arnd Schwendy würde ich gerne. Aber das gestaltet sich schwierig . Der ist ja Sozialdezernent in Köln. Da komme ich bisher übers Vorzimmer nicht hinaus.
Mucha: lacht Das ist genau der Typ, wo wir Angehörigen in Baden-Württemberg gesagt haben: „Ihr könnt uns mit euren Bundesverband den Buckel runterrutschen.“
Ich: Sie sagen Ihre Schwester war betroffen. Wie viele Geschwister sind Sie gewesen?
Mucha: Zwei. Zwei Mädchen.
Ich: Und in welchem Alter ist ihre Schwester erkrankt?
Mucha: 1911 ist sie geboren. Der erste Schub kam mit 18. Wie das so üblich ist. Sie konnte einfach nicht mehr gehen, aber das hat sich wieder gelegt. Und dann hat sie sich wirklich
durchgekämpft. Sie war also auf dem Büro als Stenotypistin, wie das damals hieß. Dann kam der Krieg, und die Männer kamen an die Front. Und da wurde sie Korrespondentin, aber als Schreibdamen hatte sie ihre ehemaligen Kolleginnen. Und das war nichts für meine Schwester. Denn sie war nicht der robuste Typ. Und da gab’s dann, heute sagt man Mobbing. Und dem konnte sie nicht standhalten. Aber sie hat immerhin noch ausgehalten bis 1941.
Es war 1929, wo der erste Schub kam. Da erinnere ich mich noch gut dran: Meine Schwester wurde von meinen Eltern immer eher ein bissele wie ein rohes Ei behandelt. Mein Vater hat sie immer bevorzugt, hat mich nicht gestört, ich sag das vielleicht im Nachhinein. Also das Erika war das Erika.
Ich: War das ein psychotischer Schub, oder wusste man das gar nicht so genau?
Mocha: Im Nachhinein würde ich sagen depressiv, eher depressiv. Wenn sie psychotisch gewesen wäre, wäre es ja auffallend gewesen. Das war sie ja nicht. Sie war vielmehr zurückgenommen, retardiert. Sie war gemütskrank. Und das finde ich einen so viel besseren Namen als Depression und Schizophrenie.
Und das war dann so: Als wir uns gründeten, da kamen die Angehörigengruppen hoch. Bei uns gab’s ja schon Ausgangs der 70er Jahre· Angehörigengruppen. Wir haben uns dann im losen Zusammenhalt immer wieder mal getroffen, eigentlich so ein bissele unter der Schirmherrschaft vom „Dachverband Psychosozialer Hilfsvereinigungen“. Da war damals die Frau Inge Schöck Vorsitzende. Die ist ja auch hier in Stuttgart, und die hat uns manche Tipps gegeben. Wir haben uns dorthin gewendet, und dann hat die Stuttgarter Gruppe mal Geld gekriegt, und die anderen Gruppen kriegten auch Geld. Für Briefmarken, Telefon usw.
Ich: Sie sind ja als jüngere Schwester aktiv geworden. Sind nicht Ihre Eltern in erster Linie aktiv geworden? Wie war das eigentlich?
Mocha: Nein. Meine Eltern konnten nicht aktiv werden, da war damals das Dritte Reich. Da ging ja gar nichts. Das Haus war dann ausgebombt, und mein Vater hat sich sehr darum gekümmert. Da war meine Schwester schwer krank und war öfters in Heidelberg und Göppingen. Ins Bürgerspital wollte sie nicht, das war ihr zu nahe. Und deshalb diese gemeindenahe Psychiatrie, die sehe ich sehr differenziert.
Ich: Ihre Schwester lebte damals bei Ihren Eltern?
Mocha: Ja. Hier in der Wohnung, und wir lebten oben. Wir waren immer alle hier zusammen. Und meine Kinder, die haben auch unten gespielt, wie das so üblich ist. Und die haben ihre psychisch kranke, depressive Tante mächtig mit ins Spiel einbezogen und die musste, ob sie wollte oder nicht, Puppen anziehen und sonstige Sachen machen.
Ich: Sie sagten, sie hatte so was wie katatone Zustände und konnte sich nicht rühren, aber bei Luftschutzalarm war sie als erste im Keller.
Mocha: Ja, ja. Da ging der Alarm los, und sie war als erste im Keller. Ich war damals so 18, 19. Ich war 16, als der Krieg anfing. Ich hatte damals so eine Stinkwut. Den ganzen Tag über da will sie sterben, und da isst sie nichts, da muss man sie füttern – und der erste Sirenenton und weg war sie. Und ich durfte dann mit ihrem Köfferle, da hatte jeder so sein Sturmgepäck, ich durfte das dann hinterher tragen.
Und damals bei den ersten Tagungen in Bad Boll, wo dann Psychologen, Pfarrer und Ärzte – vor allem Ärzte – da waren, hat das Interesse gefunden. Und zwar vom Suizidgedanken her. Da liegt ein psychisch Kranker im Bett, ist furchtbar apathisch, macht sich Gedanken, sich selber was anzutun, wenn aber durch Fremdeinwirkung, dann ist es vorbei. Und die Ärzte haben das auch festgestellt in den Krankenhäusern.
Wir haben darüber natürlich auch diskutiert. Ich hatte es dann sehr schwierig, weil ich da ein bissele festgefahren war in meiner Wut. Aber im Nachhinein sage ich auch: „Wenn ich mir etwas antun will, dann mache ich das, wenn ich will. Und wenn die Engländer mir da oben eine Bombe aufs Haupt setzen, dann ist das denen ihr Wille und nicht meiner.“
Ich: Sie waren, als Ihre Schwester krank wurde, als man es gemerkt hat, ungefähr sieben?
Mucha: Genau. Das war die erste Krankheit damals, wo ich sieben war, 1929.
Ich: Wie war das für Sie als Kind? Haben Sie das überhaupt mitbekommen?
Mucha: Möchte bloß wissen, was meine Erika hat? Warum liegt die denn jetzt im Bett und überhaupt, warum kann die net gehe? Ich habe mir da keine Gedanken drüber gemacht. Das kam erst sehr viel später. Das kam, als meine Schwester 41 wieder krank wurde.
Ich: Hatten Sie Probleme durch die Nazizeit? Das war ja nicht ohne.
Mucha: Nein, das war nicht ohne. Da haben wir schon Probleme gehabt. Aber wir haben das erstaunlicherweise sehr gut gelöst. Ich will Ihnen mal einen Fall schildern: 1941 der
Krankenhausaufenthalt im Bürgerhospital. Wie hat’s damals geheißen: Da wo die Verrückten sind. Klapsmühle gab‘ s damals noch nicht.
Da waren Diakonissen, sehr nette Schwestern. Meine Mutter kam mal dorthin und da hatte meine Schwester irgendwelche Klamotten an, die ihr überhaupt nicht passten. Meine Mutter hat immer drauf geguckt und auch meine Schwester selber, dass sie gut gekleidet war. Da hat sie derart wütend gesagt: „Wo sind die Kleider von meiner Tochter?“ Und da hat die Diakonissin gesagt: „Das ist hier halt so.“ Und da hat meine Mutter gesagt: „Das ist hier überhaupt nicht so.“ Die hat vielleicht Größe 38 gehabt und 46 gekriegt. Wenn Sie schon krank sind und ziehen dann Klamotten an, wo Ihnen nit gehöre und nit passe, und da hat meine Mutter, energisch wie sie war, fürchterlich geschimpft. Die hat weder angeklopft noch sonst was, die raste da hinein, ich kann mir das so richtig vorstellen, wie sie das gemacht hat.
Ich: Das war eine mutige Frau, Ihre Mutter.
Mucha: Ja, vor allem, wenn sie die Notwendigkeit gesehen hat. Sie hat gesagt: „So geht das nicht. Und wenn ich wiederkomme, dann hat meine Tochter ihre Kleider an, ihre eigenen.“ Und dann hatte sie sie an und alle anderen Frauen auch.
Siehste. Und da muss ich mich ja engagieren, grad der Erika wegen. Und dann war das noch mal schlimm. Das Bürgerhospital hatte ja auch eine andere Abteilung außer der Abteilung Psychiatrie, und da war ein weitläufiger Park, wie das so üblich war. Und da war ein Käfig drin, vielleicht so groß wie das Zimmer. In dem Park. Mit Maschendraht umzäunt, mit einer Türe und mit Sitzbänken.
Und da wurden die von der psychischen Abteilung reingesetzt, damit sie frische Luft kriegten. Und da bin ich gekommen und wollte meine Schwester mal besuchen, lauf da dran vorbei, wieso ist der Käfig da? Ich hatte ja keine Ahnung, es war mir auch wurscht, und jetzt seh ich da die ganzen Frauen, da saß meine Schwester drin. Ich stand wie vom Donner gerührt, und da hat die Diakonissin gesagt: „Kommen Sie rein, nehmen Sie Ihre Schwester mit, gehen Sie mit Ihrer Schwester spazieren.“
Meine Schwester war auf der Allianz. Da waren viele, viele Arbeitnehmer. Die hatte irrsinnig viele Kollegen. Da ist dieses Krankenhaus, wo auch eine innere Abteilung war, und die gingen dann mit ihren Patienten spazieren. Wie viele Kollegen, Freunde, Bekannte gingen da vorbei, und meine Schwester saß in dem Käfig. Und seitdem war für meine Schwester gemeindenahe Psychiatrie total im Eimer. Die ging nach Heidelberg in die Klinik, die ging nach Göppingen in die Klinik. Aber nie mehr ins Stuttgarter Bürgerhospital.
Jetzt ist das besser, aber am Anfang habe ich auch gesagt: „Gemeindenahe Psychiatrie, meine lieben Leute, was tut ihr damit unseren Patienten an? Und auch den Angehörigen.“
Ich: Einfach, um nicht erkannt zu werden, wegen der vertrauten Gesichter, der Vorurteile?
Mucha: Genau so ist es. Da hatte unser Hausarzt, der sie immer wieder eingewiesen hat, vollstes Verständnis dafür. Das war ein richtig alter handfester Doktor. Der hat gesagt: Nein, Fräulein Seibert, Sie gehen nicht ins Bürgerhospital, ich guck, dass ich Sie in Heidelberg unterkrieg oder beim Landauer in Christofsbad.
Ich: Da hat die Frau Lorenz auch von erzählt. Da war ihre Mutter mal.
Mucha: Christofsbad, Landauer, eine uralte Psychiater-Dynastie. Und dann kam vom Landauer der Schwiegersohn. Die gibt es, glaube ich, immer noch.
Ich: Ich glaube, wir waren noch bei den Nazis.
Mucha: Ja, wir waren bei der Nazizeit. Da war meine Schwester in Heidelberg. Das war eine katholische Schwester damals. Meine Schwester hatte auch gleich einen guten Draht zum Pflegepersonal. Die Nachbarn dort drüben, die hatten ein Telefon. Und wir nicht. Und da rief dann diese Schwester an und hat gesagt: „Herr Seibert, holen Sie Ihre Tochter.“ Mein Vater fuhr mit dem Zug nach Heidelberg und hat meine Schwester abgeholt. Und da hat die Erika gesagt: „Ja, da war wieder eine Kommission da.“
Und diese jungen Frauen z.B. Frau Buck … die wurden mehr oder weniger sterilisiert.
Ich: Dorothea Buck: Auf der Spur des Morgensterns? (unter dem Pseudonym Sophie Zerchin) Hatte deswegen die Krankenschwester angerufen? Damit Ihre Schwester da nicht der Kommission begegnet?
Mucha: Ja. Und so hat meine Schwester eine solche Zwangssterilisation überlebt. Nein, das wurde bei meiner Schwester nicht gemacht. Ich glaube, diese Schwester hat noch mehr Frauen gerettet. Das war kein Einzelfall. Die hat sicherlich einen Wink von jemand anders gekriegt: „Du, die sind da wieder unterwegs und wollen aussuchen.“ Da haben die alle ihre Patientinnen heimgeschickt.
Ich: Und Sie wussten das, weil Ihre Schwester das dann erzählt hat?
Mucha: Nein, das hat sie mir erst sehr viel später erzählt. Wir wussten das ja damals gar nicht. Aber nachher hat mir meine Schwester gesagt: „Was meinst du, warum der Vati mich geholt hat? Bloß aus dem Grund, dass mir das nicht geschieht.“ Und das waren die Schwestern. Also es gibt immer wieder Möglichkeiten, unter den schlimmsten Umständen doch irgendwo dagegen zu steuern.
Ich: menschlich zu sein
Mucha: Ja. Das wollt ich bloß nit sage.
Lange Pause
Also das war diese Zeit. 43 hab ich sie mal erlebt, da war ich bei ihr in Göppingen, da hatte sie am Tag vorher Elektroschock gekriegt und war so was von entsetzt. Die Schwester vom Pflegepersonal war reizend zu mir. Die hat gesagt: „Jetzt kommen Sie mal, wir haben ein bissele Kaffee, jetzt kriegen Sie erst mal eine Tasse Kaffee.“ Und da haben sie mir gesagt, was Elektroschock überhaupt bedeutet. Ich hatte ja keine Ahnung davon.
Ich: Wie war das damals überhaupt für Sie oder für Ihre Eltern? Hatte Ihre Familie überhaupt Kenntnisse über psychische Erkrankungen? Wusste die das überhaupt einzuordnen?
Mucha: Nein, in keinster Weise. Es war eine rein gefühlsmäßige Sache, wie meine Eltern reagierten. Ich muss sagen: Sie haben gut reagiert. Mein Vater hat dann um 51 rum Freud gelesen. Er war so was von entsetzt. Und bitterböse, wie er auf den Mann war, hat er gesagt: „Seine Bücher hätten sie ruhig verbrennen können.“ Lachen
Mein Vater hatte natürlich schon irgendwo in so blöden Lexika was gefunden. Was zur Demenz führt. Da hat er gesagt, das kann er sich nicht vorstellen. Das ging ihm gegen den Strich. Er war ein handfester Ingenieur, und das waren zu schwammige Sachen. Das steckte ja in dem Begriff Dementia praecox drin, diese Krankheit endet dann in . … ganz genau, Kraepelin hat den Schmarrn erzählt. Das spukt ewig, das hat noch in den 70er Jahren in den Köpfen von denen Psychiatern gespukt. Das war mitunter etwas, wo wir bitterbösen Mütter aufgestanden sind. Das waren die Mütter. Es waren ja nur noch Mütter.
Es war ja nach dem Krieg. Das war fünfzehn Jahre nach dem Krieg. Das waren die Mütter, die mit ihren Kindern geflohen sind aus dem Osten, von Schlesien, vor den Russen geflüchtet, aus Ostpreußen, die zum Teil aus Ungarn kamen und aus all diesen Ostgebieten. Und dann waren sie hier mit ihren Kindern. Und der Mann war entweder gefallen oder in Gefangenschaft. Und viele Stuttgarter ausgebombt. Oder auch nicht ausgebombt, manche hatten auch Glück.
Das muss man immer im Zusammenhang mit der Zeit sehen. Also es war die Zeit: Es waren die jungen Frauen, die Kinder gekriegt hatten während dem Krieg, die alleinerziehend waren, die die Männer nicht da hatten, die die Kriegszeit überdauert haben und die die Familie zusammen gehalten haben. Oder geflohen sind. Die ihre Männer, die vom Krieg nach Hause kamen oder aus russischer Gefangenschaft, wieder auffangen mussten. Denn die waren ja auch, sagen wir mal, belastet von dem ganzen Erlebten. Und als vielleicht wieder eine gewisse Normalität eintrat, eines der Kinder psychisch erkrankt ist. Oft war es dann so, dass der Vater das Weite gesucht hat, weil er das nicht mehr ertragen konnte. Er war auch belastet, aber die Mütter haben eben ausgehalten.
Dieser Schmarrn, den Sie dann von den Psychiatern zu hören kriegten. Punkt eins: die überfürsorgliche Mutter. Punkt zwei: die schizophrenogene Mutter. Punkt drei: Jaaa, wenn das Kind die ganze Flucht erlebt hat, dann geht’s ja gar nicht anders. Jetzt hatte die Frau aber vier Kinder. Und drei davon sind gesund, und einer ist krank geworden. Also diesen ganzen Schmarrn. Endlich hatten die Psychiater einen Grund, warum man psychisch krank wird. Die Mutter, der Krieg, die Umstände usw. Jetzt hatten sie’s. Jawoll.
Ich: Und das hat sich lange gehalten, oder?
Mucha: Das hat sich lange gehalten. Gegen das haben wir uns gewehrt. Das war’s ja, wo die Frauen aufgestanden sind: Frau Wingler und wie sie alle geheißen haben und gesagt haben: So ein Blödsinn.
Und da hat man eben mal ein bisschen energisch in Bad Boll aufgetrumpft. Und da hocken sie ja nun alle, vor allem die jungen Medizinstudenten, die dabei saßen und die Ohren gespitzt hatten. Und ich erinnere mich noch genau, wie die Frau F. gesagt hat: „Ich möchte nicht wissen, was Sie da bei uns herin suche, wenn Sie sich nicht am Gespräch beteiligen.“
Tja. Die haben alle gesagt: „Ja was will er denn bei so einer dominanten Mutter, da muss er ja psychisch krank werden.“ Das ist ja klar. Die haben diese Frauen gesehen, die nun, energisch wie sie waren, sein mussten in den vergangenen zwanzig Jahren. Da hieß es dann: klarer Fall.
Ich: Was ist damals in Ihrem Leben passiert? Der konkrete Anlass, dass Sie sich engagiert haben? Trotz Mann und Kinder.
Mucha: Das war diese Ärztin, die mir den Zettel in die Hand drückte und sagte: „Frau Mucha, gehen Sie doch mal dahin.“ Zu der Angehörigentagung. Das war der Anlass.
Ich: Aus welchem Gefühl kam das denn?
Mucha: Aus dem Gefühl, was ändern zu wollen: So nicht!
Es war so: Meine Eltern, mein Vater ist 65 gestorben, meine Mutter 67. Dann stand ich in der ersten Reihe. Und dann kam natürlich des alles. Man hat gesehen, was los ist. Und das war natürlich das Gefühl: Du musst da was ändern. Du musst dich informieren. Ich muss jetzt für meine Schwester da sein. Das hat mein Mann ja gewusst, als er mich heiratete. Und er hat sie mitgetragen und sie oft auch sogar viel besser verstanden als ich.
Mir ging’s um die Veränderung.
Ich: Die Öffentlichkeit wusste damals wahrscheinlich genau so wenig wie Sie etwas mit psychischen Erkrankungen anzufangen?
Mucha: Ich hatte ja in der Zwischenzeit viel gelernt. Das ist klar. Als meine Schwester krank wurde, hat mein Vater gesagt: „Also unser Erika ist jetzt krank. Und zu ihr müssen wir stehen.“ Wie hat er noch gesagt? „Kopf hoch und durch.“
Das hat mir sehr den Rücken gestärkt. Das war Selbstbewusstsein: „Und das ist so, und das ändern wir nicht, und die Erika ist bei uns und bleibt da.“ Es ging ja damals auch noch drum, dass die Leute abgeholt wurden. Also ins Krankenhaus, wissen Sie, diese grauen Busse.
Ich: Das heißt, Ihr Vater hat vorgelebt, dass man sich nicht versteckt?
Mucha: Ja genau. Bei uns hat es jeder gewusst. Die Nachbarn waren reizend. Eine alte Nachbarin, eine liebe Frau, wenn die was gebacken hatte von ihren paar Märkle, wo sie hatte, hat sie der Erika immer was gebracht. Also sie war hier in unserem kleinen Privatweg voll aufgenommen. Jeder wusste: Erika läuft halt manchmal rum und guckt nicht links und rechts, sagt nicht „Grüß Gott“ und schwätzt gar nichts, und dann muss man sie eben laufen lassen.
Ich: Das nähere Umfeld hat also verständnisvoll reagiert?
Mucha: Ich glaube, dass die Leute, die das hingenommen haben so wie wir, dann auch von der Nachbarschaft akzeptiert werden. Wenn ich mich natürlich abkapsele, also versuche, etwas zu verheimlichen als Angehöriger, dann werden die anderen denken: „Moment mal! Was ist denn da los?“ Während wir einfach normal mit der Sache umgegangen sind.
Ich: Wie waren die ökonomischen Belastungen?
Mucha: Bei uns hat das keine große Rolle gespielt. Aber bei vielen Familien schon. Heute noch ist das so. Der Deger-Erlenmaier hat mal Anfang der 90er für den Bundesverband so eine Aufstellung gemacht über Regress-Zahlungen der Angehörigen. Das war 1,3 Milliarden. Allerdings ist das nicht wissenschaftlich belegt. Aber ich sag immer: Wir Angehörigen sind der größte Wohnverbund und die größte Unterstützung von den psychisch Kranken.
Ich: Die meisten Betroffenen sind immer noch in der Familie, oder?
Mucha: Ja natürlich. Und wenn nicht, dann sind sie in einer Wohngemeinschaft, und die Angehörigen werden zur Kasse gebeten. Wenn der Staat uns da nicht hätte, dann würde er ganz dumm gucken.
Ich: Wie war es mit persönlichen Krisen? Wie konnten Sie das in der Familie auffangen?
Mucha: Als meine Eltern gestorben waren, hatten wir wirklich ein Riesenproblem. Mein Mann bestand drauf und ich eigentlich auch und die Kinder sowieso, dass wir vier Wochen in Urlaub gehen. Kann kommen, was will.
Ich: Sie waren Hausfrau, nehme ich an?
Mucha: Ja. Aber nicht nur. Denn 65 hatte mein Mann den ersten Herzinfarkt, und wir hatten wie gesagt eine Industrievertretung, Handelsvertretung. Dann hab ich mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren. Und da war meine psychisch kranke Schwester, da war schon High-Life. Da kam alles zusammen: Mein Mann Herzinfarkt, mein Vater gestorben, und ein gutes Jahr später, im Januar, meine Mutter.
Meine Schwester, die wurde dann zur Nervensäge. Ab Mai oder Juni: „Wann geht ihr in Urlaub?“ „Erika, wenn Ferien sind.“ Nach acht Tagen: „Gell, ihr geht in Urlaub?“ „Ja, wir
gehn in Urlaub.“ „Und wo geht ihr wieder hin?“ „Erika, wie immer an den Gardasee.“ Das ging, bis meine Schwester nun wirklich reif war für die Psychiatrie.
Ich: Hat sie sich da so reingesteigert? Aus Angst, dass Sie dann weg sind?
Mucha: Weil es einen Einschnitt gibt in ihrem Leben. Sie hatte eine Freundin, mit der ist sie groß geworden, in Kindergarten und Schule gegangen. Die hat immer nach ihr gesehen, wenn wir mal weg waren. Oder eine Freundin von mir ist gekommen. Meine Erika war nie allein, gell? Aber für einen Urlaub über vier Wochen weg zu sein, das war hart. Und sie hat es jedes Mal geschafft, in die Psychiatrie zu kommen.
Ich: Waren die Urlaube dann im Eimer, oder konnten Sie trotzdem fahren?
Mucha: Wir sind trotzdem gefahren. Und ich muss sagen, da gab es sehr gute Ärzte. Die haben gesagt: „Frau Mucha, fahren Sie in Ihren Urlaub. Ihre Schwester bleibt noch so lange da.“
Das war mein ganz prekäres Thema: Wo kann ich meine Schwester hinbringen, wenn meine Familie in Urlaub geht? Und das hab ich 1970 vorgebracht: „Wo gibt es Plätze? Wo gibt es Kurzzeitpflege?“ Ich will sie ja nicht dort lassen. Ich hab sie dann auch einmal untergebracht in einem Wohnheim. Ich hatte dann meine Beziehungen, hatte viele Leute kennengelernt durch die Angehörigenbewegung und konnte mir da schon ein bissele Freiraum schaffen.
Ich: Wer trägt denn die Hauptlast in der Familie? Mutter, Vater, Eltern, alle zusammen?
Mucha: Ja. Es gab auch viele Männer, die sich engagiert haben. Auch in der Stuttgarter Gruppe. Da waren auch die Väter da. Also, mindestens, wenn wir damals so fünfzehn in der Gruppe waren, dann waren so ein Drittel immer auch die Väter.
Ich: Trennt die Krankheit eine Familie, oder schweißt sie eher zusammen?
Mucha: Das ist ganz individuell. Ich kann Ihnen nur ganz subjektiv sagen: Gerade in der Zeit zwischen 70 und 80: Erika, wenn ich ein Heim für dich hätt, ich würd dich dorthin stecke. Ob ich es im Endeffekt getan hätt, ich weiß es nicht. Weil ich einfach …
Ich: mal die Nase voll hatten?
Mucha: So. Und das ging ja nicht. Also sind wir beieinander geblieben. Aber die Krankheit hat eher geschweißt. Eigentlich schon dadurch, dass meine Schwester im Krieg krank wurde.
Ich: Wie wichtig sind Angehörigengruppen in Ihren Augen?
Mucha: Sehr wichtig. Ich kann nur sagen, und das betone ich immer wieder, wo ich auftrete, ich sag’s jetzt flapsig, das sag ich da natürlich nicht: „Liebe Angehörige, machet keine Seelenmassage, sondern informiert Euch“.
Das wichtigste, was ich getan habe, und was eigentlich alle in der Stuttgarter Gruppe machen: Wir müssen die Angehörigen informieren. Ihnen richtigen Lesestoff geben. Es gab derartige Schwarten, immer wieder nur Schuldgefühle drin … Literatur, gute Literatur, informierende Literatur. Das ist das „A und O“.
Ich: Sie haben 70 angefangen. Gab’s da schon gute Literatur?
Mucha: Nein. Das kam erst Mitte, Ende der 70er, als der Dachverband gegründet wurde. Da kam dann zum Teil Literatur. Wo wir so einen Hals kriegten, wenn wir die gelesen haben.
Was wir hatten: Wir hatten trotzdem auch immer wieder gute Ärzte. Die haben wir uns in die Stuttgarter Gruppe geholt, und dann mussten die uns Rede und Antwort stehen.
Ich: Und die kamen auch?
Mucha: Die kamen auch.
Ich: Haben die auch wirklich informiert?
Mucha: Ja, ja. Vor allen Dingen konnten wir denen ja viel eher Bescheid sagen. Weil wir viel mehr Erfahrung hatten. Wir hatten ja die große Erfahrung.
Ich: Klar, die hätten viel von Ihnen lernen können, haben sie dann hoffentlich auch.
Mucha: Sicher, das haben sie auch. Und das war ja das. Manchmal bei Tagungen hat ein Arzt einen Schmarrn erzählt, dass ich gedacht habe: „Warum fragen die nicht?“ Hätten die meine Mutter gefragt, die hätten klipp und klar Antwort gekriegt. Das waren doch die Praktiker. Aber Praxis gibt’s nicht, sie haben studiert. Sie haben es gelernt an der Universität. Und wir? Na, wir können ja nichts wissen. Das war dieser Zoff, den wir da mit den Psychiatern hatten.
Ich: Wie haben sich damals die Professionellen verhalten? Ärzte, Pfleger in den Kliniken. Warum haben sie die Angehörigen nicht einfach zu Rate gezogen, oder die Betroffenen?
Mucha: Von Betroffenen gar nicht zu reden. Das war ja des, wo wir dagegen angegangen sind. Aus dem Grund haben wir unsere Angehörigenbewegung gegründet in Stuttgart. Und gesagt: „So geht das nicht. Was machen die denn da für dummes Zeug?“
Ich war manchmal so wütend. Frau Wingler hat gesagt: „Mucha, woher sollen sie es denn wissen? Woher?“ Und da kam dann schon der Dörner mit ins Spiel und der Egetmeyer, beide damals junge Ärzte. Die sind in die Familien gegangen, und da haben sie gesehen, was los ist.
Ich: Wie war das so mit den Pflegern und den Kliniken?
Mucha: Eigentlich möchte ich fast sagen, dass die Pfleger und auch das Klinikpersonal, also die unteren Chargen, viel verständnisvoller waren. Denn die haben das gesehen: die Not. Wenn die Mütter gekommen sind. Viele Pfleger haben Angehörigengruppen gegründet.
Ich: Vom Pflegepersonal?
Mucha: Ja freilich.
Ich: Das freut mich zu hören. Ich habe bisher nur gehört, dass das Pflegepersonal mit am schwierigsten gewesen wäre.
Mucha: Nein. Habe ich nie empfunden. In meiner Erinnerung war es auch sehr oft der katholische
Krankenhaus-Seelsorger, der die Angehörigen unterstützte.
Ich: Ich hab die Seelsorger unterschätzt. Das kriege ich jetzt erst mit, dass die rührig waren.
Mucha: Weil die die Not kannten.
Große Schwierigkeiten hatten wir am Anfang mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst. Weil die nicht von ihrem Podestle runterwollten. Die mit einer Euphorie an die Heilung der psychisch Kranken rangingen und dachten, sie haben das Gelbe vom Ei. Sie haben studiert und jetzt wissen wir, wie man’s macht. Das war Anfang der 80er Jahre. Und dann hatten wir einen Personalschlüssel 1 zu 75.000 in der Prärie und 1 zu 25.000 in Stuttgart. Und in Stuttgart hat es dann ziemlich schnell funktioniert. Da muss ich Ihnen sagen, ganz im Ernst: Wenn ich da an die zwanzig Jahre zurückdenke: Unsere psychisch Kranken haben die Sozialarbeiter erzogen.
Ich: Gut. Lachen Können Sie dazu noch was Näheres sagen?
Mucha: Ja. Die Sozialarbeiter haben dann doch sehr schnell gemerkt, dass sie mit ihren Idealen, mit denen sie angetreten sind, bei der Krankheit nicht durchkommen. Die haben gedacht: „Da macht man’s so, und dann macht man’s sowieso. Dann kriegt der seine Streicheleinheiten, und dann lauft der, und dann geht es in der Spur“ usw. usw. Also es war einfach ein gewisses Nichtwissen von der Krankheit.
Die merkten dann: Da hatten sie einen voll psychotischen Patienten, und sie kriegen den nicht in die Klinik, weil der Arzt das nicht macht und das Gesundheitsamt auch nicht. Lacht Sie hatten genau die gleichen Probleme, die wir auch hatten.
Ich: Wie wichtig ist bei der Angehörigenbewegung der Aspekt der Selbsthilfe?
Mucha: Ganz groß. Ganz wichtig. Wenn ich nicht diese handfesten Frauen gehabt hätte, diese gradlinigen, die geradeaus denken können, und die sagen: „So ein Quatsch. Und das ist schrecklich, und probieren Sie es doch mal so, und lassen Sie sich von dem gesunden Menschenverstand nicht abbringen. Lesen Sie nicht so viele hochpsychologische Sachen, das bringt nichts. So ist’s und da müssen wir sehen, wie wir durchkommen.“ Das ist sehr viel, das ist es heute noch.
Ich: Kann ich so weit gehen, dass ich sage, die Angehörigenbewegung ist in erster Linie eine Selbsthilfebewegung? Gewesen oder ist sie noch?
Mucha: Ja. Ist sie heute noch. Ich würde das ganz fanatisch unterstreichen. Profis haben bei uns nichts zu suchen. Im Endeffekt: Wir sind die Praktiker.
Ich will das nicht in Bausch und Bogen verdammen. Ich habe auch sehr gute Profis kennengelernt, das hat damit gar nichts zu tun. Ich würde sagen: auf jeden Fall ohne professionelle Leitung. In anderen Bundesländern ist das sehr professionell von oben runter gekommen.
Da werde ich Ihnen jetzt mal ein Ding erzählen: Also, den Amd Schwendy, den hätte ich am liebsten auf den Mond geschossen. Ich muss sagen, da waren die Angehörigen empört. Wir hatten ausgangs der 80er Jahre – ich kann’s nicht mehr genau sagen – ein nettes Treffen in Ulm, irgendein Treffen. Und die baden-württembergische DGSP war neben dran in einem ganz anderen Haus, die hatten auch ne Tagung. Und bei denen war es so stinkmadig langweilig, dass die mit der Zeit alle bei uns dahinter waren. Und da ging’s natürlich viel handfester, turbulenter und gradliniger zu.
Und des muss ich sagen, was wir gemacht haben. Wir hatten immer eine höllische Angst, wir werden von denen abgetan „na ja, die Angehörigen“. Und darum, das war der Karlheinz Walter, waren wir immer sehr professionell in dem, was wir gemacht haben. Ob wir das ausgewiesen haben, die Wortwahl, das musste in Baden-Württemberg sitzen.
Ich: Wovor hatten Sie Angst?
Mocha: Dass die Psychiater – und des ist so – uns als Lieschen Müller abstempeln. Das ist bis heute so. Und da dürfen wir Angehörigen uns keine Blöße geben. Da achte ich immer drauf. Wir müssen ganz professionell sein. Denn sonst wirst du von denen nicht akzeptiert.
Wichtig war: Information, in jeder Beziehung. Auch Aussprache, ganz klar. Das ist selbstverständlich. Aber vor allen Dingen haben wir informiert: ob das politisch, sozialpolitisch,
Literatur oder andere Sachen waren.
Und wie gesagt, da kam die ganze DGSP so tröpfeleweise zu uns. Dann kam Arnd Schwendy. Der damals schon der Geschäftsführer des Dachverbandes war. Wir Baden-Württemberger wollten einen eigenständigen Bundesverband. Nicht unterm Dachverband. Wenn ich als Angehörige einen Brief gekriegt hab vom Bundesverband und da war oben der Briefkopf drauf vom Dachverband, dann kriegte ich so’n Hals. Wo sind wir? Eigenständig bitte. Wir wollen nicht unter denen sein.
Also Arnd Schwendy rauschte rein, Arnd Schwendy aufs Podium, Arnd Schwendy Mikrofon und erzählte uns nun, was wir zu tun haben. Und er würde das überhaupt nicht notwendig finden, dass in Baden-Württemberg pro Jahr zwei Landestreffen stattfinden. Da würde eins reichen, oder, oder …. Also er hat uns gemaßregelt. Unterm Strich, dass er nicht gesagt hat, er ist sowieso der bessere Vater für die psychisch Kranken als wir lacht da hen wir Glück. Das hat er nicht gesagt. Dann ging doch ein Murren durch die Reihen. Und da hat er sich verabschiedet und ist verschwunden. Und da hen wir gesagt: „Hä?“ Und viele von den Angehörigen haben dann laut gesagt: „Ja, wer war denn des?“ Die hen den gar nit kennt.
Ich: Er hat sich nicht vorgestellt?
Mocha: Ach was. Arnd Schwendy kennt man. Auf jeden Fall, Arnd Schwendy und ich, wir haben uns immer in der Wolle gehabt. Also, da haben wir Wert drauf gelegt.
Ich: Ist er auch Angehöriger?
Mocha: Nein. Ich glaub net.
Und wir Baden-Württemberger, wir hen gesagt, wie der formulieren kann, könne mer auch. Und wehe, der hat etwas geschriebe in der PSU. Da kam ein Brief vom Karlheinz Walter. Der war genau so perfekt.
Ich: Waren Sie trotzdem Mitglied im Bundesverband?
Mucha: Der Baden-Württembergische Landesverband war kein Mitglied im Bundesverband. Wir haben es unseren Mitgliedern freigestellt als Einzelmitglieder – das gab es damals – im Bundesverband.
Ab 1986 gab es dann den „Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch Kranker“. So nannten wir uns. Wir hätten ihn schon 1984 gründen können, aber wir wussten, da kommt der Bundesverband. Da haben wir gesagt: „Jetzt halten wir uns noch mal zurück, jetzt warten wir mal ab, was die machet.“ Dann wurde 1985 der Bundesverband gegründet. Während der Tagung ist der Karlheinz aufgestanden und hat gesagt: „Wir wollen einen Bundesverband. Aber so einen nicht. Wir wollen einen eigenständigen.“
Hildegunt Schütt war arm dran, von meiner Warte aus. Also, die Frau habe ich bewundert, aber ich habe gesagt: „Es tut mir leid, ich akzeptiere alles, was du machst. Und du tust mir vom Herzen leid, dass du gegängelt wirst vom Dachverband.“ Da entstanden schon so scheibchenweise die anderen Landesverbände. Mit den Bayern hat die Hildegunt Schütt auch ihre Schwierigkeiten gehabt, die wollten nämlich auch nicht da drunter. Und dann wollten wir eigentlich von Baden-Württemberg aus Druck machen. Die Länder waren selbständig, weil die ganze Politik, die Gesundheitspolitik ist Ländersache.
So wie der Bundesverband jetzt da steht, so haben wir ihn uns vorgestellt. Weil sie eine ziemliche Eigenständigkeit haben. Sie haben ihre eigene Geschäftsführerin, sie haben auch eine Kraft, die der Geschäftsführerin zuarbeitet. Da hat‘ s der Vorsitzende, der Speidel viel einfacher, und die Finanzen sind auch geklärt. Denn sie werden ja gefördert.
Also wer von uns wollte, konnte in den Bundesverband. Dann ging’s um die dämliche PSU.
Ich: Wann ist die eigentlich herausgekommen?
Mucha: Die PSU gab’s Ende der 70er Jahre, glaube ich, grad, wo der Dachverband da war. Der Arnd Schwendy, der hat die, glaub ich, ins Leben gerufen, so genau weiß ich das nicht. Aber das war damals schon die maßgebliche Zeitung.
Und gegen was wir uns auch gewehrt haben, war mitunter die Familientherapie. Was wurde da gesündigt an den Angehörigen. Zurückgegangen, dem Patienten eingeredet, bis zum Ursprung, noch bevor er auf der Welt war, diesen ganzen Blödsinn. Das wurde dann in den 80er Jahren allerdings auch besser.
Ich hab nie eine Familientherapie gemacht, aber aus der Gruppe weiß ich, dass die hell entsetzt waren, was die Therapeuten da gefragt haben. Wie sie ihnen das Wort im Mund rumgedreht haben. Und da haben wir uns sehr dagegen gewehrt. Es gab sicherlich auch gute Therapeuten. Wir hatten da nicht direkt eine Schwarz-weiß-Liste. Aber unter der Hand haben wir gesagt: „Gehen Sie da nicht hin, und wenn Sie unbedingt, dann gehen Sie zu dem … “ So.
Ich: Schwingt da auch bisschen die Schuldfrage mit?
Mucha: Sicher. Das hat mit der Schuldfrage zu tun. Denn die wurde Ihnen ja wieder so aufoktroyiert. Das war’s ja. Die schizophrenogene Mutter kam durch die Hintertür wieder rein. Nachdem wir gemeint hatten, wir hätten sie schon weg gehabt. Also in der Familientherapie, da ist sehr viel gesündigt worden. Da waren wir wahnsinnig skeptisch. Und darum: Um Gottes Willen bloß kein Profi – Wir machen alles selber.
Ich: Gut. Aber wir können jetzt ja mal bei dem Thema Schuld bleiben. Die Frau Lorenz sagte, Schuldgefühle wären so mit das heikelste Thema bei den Angehörigen.
Mocha: Ist es nimmer. Also, ich glaub net. Und da bin ich froh. Diese Schuldgefühle waren bei den Angehörigen in den 70er Jahren. In den 80er Jahren hat das aufgehört, weil sie Rückhalt kriegten. Und da haben sie sich die Schuldgefühle gar nicht einreden lassen. Und sie haben gelesen, sie haben auch gute Bücher gelesen. Die Angehörigen bekamen Rückhalt durch die Literatur. Also wenn ich Ihnen jetzt so ad hoc sagen sollte, da war z.B. der „Freispruch der Familie“. Und da haben die Schuldgefühle nachgelassen.
Rückhalt gab’s auch durch Gleichgesinnte. Dass alle Frauen hörten: „Hören Sie, Sie können überhaupt nichts machen. Die Krankheit ist gekommen. Und was soll denn das? Da weißt du, du hast drei Kinder und eins ist psychisch krank. Da müssten ja bei deiner Erziehung und bei deiner Schuld die andern beiden auch psychisch krank sein.“
Unter was die Leute mitunter sehr gelitten haben, vor allem die Väter: Sie haben sich vorgestellt, mein Sohn, der Herr Gerichtsdirektor. Mein Sohn, der Herr Rechtsanwalt, mein Sohn der Herr sowieso. Die Karriere. Und die kriegte dann nen Knick. Dann musst du jetzt runterschrauben. Und wie runterschrauben. Das haben die Mütter viel eher akzeptiert als die Väter. Das habe ich damals sehr stark empfunden, wie da die Väter gelitten haben.
Es war Krieg, man hatte Familie, konnte nicht studieren und hat eben gesehen, dass die Familie sich über Wasser hielt, hat den nächstbesten Beruf ergriffen, und dabei hatte man ja weiß wie viel Pläne. Und jetzt kommt der Sohn, krank, und der Kerl ist auch noch intelligent.
Da ist noch was für mich wichtig: Was haben wir für Angehörige, die zu uns in die Gruppe kommen? Es ist dieses dreigeteilte System. Du hast die Oberschicht, du hast die Mittelschicht, die Mittelschicht ist wieder dreigeteilt: die obere Mittelschicht, die mittlere und die untere Mittelschicht. Und dann die Unterschicht, die ist wieder dreigeteilt usw. Und wir haben – das muss ich feststellen – eigentlich die mittlere Mittelschicht. Bei der Oberschicht, wo die Ärzte drunter fallen, in dieser Hierarchie, da hast du wenig Paare, selten. Die Oberschicht macht’s unter sich aus. Du hast die mittlere Mittelschicht, die untere Mittelschicht.
Und ich hab immer gesagt: „Und wie ist das bei dene Leut, die in der Unterschicht sind? Wo ist da die Not?“ Und die kriegten wir nicht in die Gruppe. Es kam mal hin und wieder eine Frau, eine etwas einfachere Frau. Aber die blieben dann immer weg. Und da kamen in Stuttgart aus der oberen Unterschicht – bleiben wir mal bei dem Begriff, ich hasse ihn, aber wir müssen das ja irgendwie deutlich machen – immer wieder mal Frauen. Und da war die Not bitter. Und die konnten nicht begreifen, was da geschieht. Auf gut schwäbisch: „Ja, wie soll 1 denn mit der umgange? Soll ich se verschlage?“ Sie hatte, sagen wir mal, gar nicht die Möglichkeit, sich zu informieren. Sie hatte auch keine Zeit zum Lesen, weil da noch andere Kinder waren oder gar noch Enkelkinder. Seufzer Und die Frauen haben mir immer so leidgetan. Sie kriegen keinen Zugang zu diesem Personenkreis.
Wie gesagt, es ist die mittlere Mittelschicht, die die Angehörigenbewegung trägt und prägt. Wir haben sehr viel Lehrer, Lehrerinnen. Das ist alles da. Angestellte, finden Sie alles bei uns, aber nach oben und nach unten fällt‘s weg. Und die kriegen Sie nicht. Da können Sie nichts machen. Wir können Sie nicht in die Angehörigengruppe tragen. Und dann haben Sie welche, die nur kommen und nur konsumieren und wieder weggehen.
Ich: Kommen wir noch mal auf die Zeit zur Gründung des Bundesverbandes zurück.
Mucha: Ja. Also, wir Angehörigen wollten ja unseren Landesverband. Und hatten damals ja nun schon 35 Gruppen verstreut in Baden-Württemberg. Wir haben heute 43. Und wir wollten uns auch politisch betätigen. Dass wir nach oben agieren können. Es waren uns sehr viele Ärzte und Klinikleiter gesonnen, die sagten: „Wissen Sie: Sie brauchen einen Ansprechpartner, und Sie brauchen einen Namen.“
So. Und darum der Landesverband. Da kam der Bundesverband unter der genau gleichen Flagge: Wir müssen uns zusammenschließen, damit wir nach oben agieren können. Darum braucht man einen Bundesverband. Damit man uns akzeptiert. Wir hockten natürlich alle schon im Arbeitskreis Psychiatrie, der aufgrund der Enquete ins Leben gerufen wurde. Ich kann jetzt zwar nur für Stuttgart sprechen, aber ich weiß von Ulm, da saßen nun schon auch die Angehörigen drin. Und dann, nachdem die Enquete war, hat auch das Land einen Arbeitskreis Psychiatrie gemacht. Wo alle drinnen waren: sehr viele Ärzte, Krankenkassen und Kostenträger. So ein Sammelsurium, wo man mit eingebunden war.
Ich: War die Enquete dabei maßgeblich?
Mucha: Die war sehr maßgeblich, obwohl sie nicht richtig durchgeführt wurde. Denn die haben uns sauber und glatt 75.000 Betten gestrichen. Weil die den Sozialpsychiatrischen Dienst eingerichtet und gemeint haben, wir brauchen jetzt kein Krankenhaus mehr.
Ich: Was ist denn verkehrt gelaufen, was meinen Sie?
Mucha: In meinen Augen haben die Politiker wie auch die Kostenträger, die Krankenkassen, Morgenluft gewittert und haben gesagt: „Tja, gut, wenn die Sozialpsychiatrischen Dienste da sind, die finanzieren wir auch, dann können wir Krankenhausbetten streichen.“
Und da kommt was dazu: Die Bundesregierung hat 1945 versäumt, ein Gesetz zu streichen. Alle Nazi-Gesetze haben sie gestrichen, nur eines haben sie gelassen von 1934, nämlich den geteilten Kostenplan. Die ganzen psychiatrischen Landeskrankenhäuser haben in den 30er Jahren nur noch den reduzierten Kostensatz für ihre Patienten bekommen. Nur in der Psychiatrie. Der wurde nicht aufgehoben. Heute haben wir noch den reduzierten Kostenplan in der Psychiatrie. Also wenn Sie ein Krankenhausbett in der somatischen Klinik haben und das kostet hypothetisch 600 Mark, dann kostet das in der Psychiatrie nur 400. Das kann natürlich von Land zu Land verschieden sein.
Und gegen das sind wir angegangen. All diese Dinge. Und dann fingen die an, die Betten abzubauen, hatten aber die Sozialpsychiatrie noch nicht aufgebaut. Das sind Punkte, wo wir
Angehörigen, als wir organisiert waren als Landesverbände und Bundesverband, nach oben sagen konnten: „So nicht. So war das nicht gedacht.“
Und dann natürlich diese fadenscheinige Auskunft bei den unterschiedlichen Kostensätzen: „Tja, die Psychiatrie hat diese Apparate-Medizin nicht.“ Da hab ich gesagt: „Dafür brauchen die aber Gesprächstherapie. Und Soziotherapie.“ Die sollte ja durchgeführt werden, aber da gibt’s keine Leute. In Baden-Württemberg haben sie uns die Institutsambulanzen gestrichen. Die ja nun sehr wichtig sind.
Ich: Warum sind die in Ihren Augen wichtig?
Mucha: Institutsambulanzen sind insofern wichtig: Da ist das Krankenhaus, da war der Patient. Kommen nun Schwierigkeiten, da kennt er sie schon. Eine gute Institutsambulanz, die muss ja auch eine Gehstruktur haben. So dass der Arzt oder ein anderer kommt und nach dem Patienten guckt. Wenn jetzt einer sehr auffällig ist und aggressiv, der kann dann auch mal in der Institutsambulanz untergebracht werden, also in dem Krankenhaus, wo die ja drin ist.
Ich: Es gibt ja die Forderung der Angehörigen, dass jemand ins Haus kommt.
Mucha: Andrerseits sage ich Ihnen ganz subjektiv: Ich versteh mitunter die Ärzte und auch die Sozialarbeiter. Wenn man diesen Klient nun überhaupt nicht kennt, und der ist aggressiv, wie wollen Sie damit umgehen? Das ist nicht einfach. Und darum scheuen sie sich auch.
Da haben wir hier in Baden- Württemberg schon gute Ansätze bei der Polizei. Von der haben wir früher bittere Klagen gehört, man hört sie heute nicht mehr. Da hatten wir einen Angehörigen, der hatte nun einen sehr guten Bekannten damals bei der Bereitschaftspolizei in der Ausbildung der jungen Polizisten. Der hat sich diesen Vater geholt, und der hat dann alle halb Jahr ein Referat gehalten.
Das ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Und ich finde es gar nicht schlecht, grad diese jungen Polizisten, die meisten kommen ohne Mütze zu den Patienten, die Mütze bleibt draußen, schon was Offizielles weg. Und dann auch oft die Sprache, halt so, wie ein 30jähriger mit einem 30jährigen schwätzt. Von gleich zu gleich. Und ich hab immer wieder gehört, dass diese jungen Polizisten – es gibt sicher Ausrutscher – das akzeptieren.
Ich: Wie war das in den Anfängen?
Mucha: Da kamen die mit Blaulicht, Tatütata, und Handschellen. Diese Zeit haben wir überwunden. Ich meine, ich hab das nicht erlebt, aber ich weiß das von anderen.
Ich: Also der Bundesverband ist Ihnen schon wichtig? Nur wollten Sie ihn damals anders.
Mucha: Total anders. Aber wichtig ist er. Wir brauchen ihn ja.
Ich: Mir hat jeder gesagt: Wenn Du was über die Anfänge der Angehörigenbewegung wissen willst, dann geh nach Süddeutschland. Geh nach Baden-Württemberg zu den Stuttgartern.
Mucha: lacht Ja, ja. Die Stuttgarter. Die Gruppen in Baden-Württemberg waren doch schon früh sehr formiert. Und darum waren wir manchmal schon ein bissele arrogant, gell, weil wir schon so weit sind. Den Bundesverband haben wir, so wie er damals leider Gottes war, nicht akzeptiert. Und die arme Hildegunt Schütt, die hat mir so was von leidgetan, sie konnte sich gegen diese Dominanz von Arnd Schwendy nicht wehren.
Ich: Waren Sie im Bundesverband aktiv?
Mucha: Ja, ja. Nachdem der Arnd Schwendy dort uffgehört hat in Bonn. Dann war ein Bundestreffen, da hat Hildegunt Schütt gesagt, sie will aufhören. Das war so 90, da hab ich gesagt: „Du, Karl-Heinz, da passiert ebbes. Jetzt wird’s Zeit, dass wir in den Bundesverband gange. Jetzt müsse wir gucke, damit die net wieder dumm Zeug mache.“ Lachen Und da hat er gesagt: „Ja, wenn du Kapazitäten frei hast, dann gehste.“ Und da habe ich mich dann auch kaltlächelnd reingedrückt. Und Hildegunt hat gesagt: „Lotte, ich bin ja so froh, fröhliches Lachen wenn ihr von Baden-Württemberg kommt.“ Und da hab ich gedacht, „Mädle, du weißt ja nicht, was noch passiert.“
Das war Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Und ich bin dann in den erweiterten Vorstand des Bundesvorstandes gegangen, so hat des geheiße.
Ich: Mit welchen Zielen hatte sich der Bundesverband auf den Weg gemacht?
Mocha: Die ganzen Angehörigen in ganz Deutschland zu organisieren.
Ich: Und unter einen Hut zu bringen?
Mocha: Ja. Und das ist natürlich net gange. Und dann natürlich lachen ich darf das eigentlich nicht sagen: Da waren dann doch die Landesverbände schon zu stark. Da gab‘ s natürlich immer wieder Reibereien, schon am Anfang, weil man sich ja nicht reinreden lassen wollte.
Da hat Hildegunt einen verdammt schweren Stand gehabt. Sie hatte keine Unterstützung von den Landesverbänden. Oder nur wenig. Beim nordrhein-westfälischen vielleicht. Die Thüringer haben sich gleich von Anfang an schon wahnsinnig selbständig gemacht, weil sie sich an uns, an Baden-Württemberg angehängt haben. Wir haben sie natürlich dementsprechend geimpft. Und die Bayern, da gehen die Uhren sowieso anders.
Der Bundesverband hat sich damals nicht richtig durchsetzen können, nicht richtig institutionalisieren. Vielmehr war der Aufbau immer noch mit dem Grundgedanken geführt wie
eine Angehörigengruppe: und zwar mit Einzelmitgliedern. Die hatten in der ganzen Bundesrepublik nur Einzelmitglieder. Und so was ist schwer unter einen Hut zu bringen. Dann
hatten sie nicht die richtigen Leute, die die Mitgliederorganisation richtig in die Hand nahmen, da waren die fürchterlichen Beitragszahlungen, dann ging’s um die PSU …
Ich: Also ganz viele Zankäpfel?
Mocha: Es waren lauter Zankäpfel. Von A bis Z. Da war der Bundesverband, sagen wir mal, nicht gut durchdacht, wie er angefangen hat.
Dazu kam, dass alle Gruppen ihr eigenes Konzept hatten. Wir haben uns in Stuttgart 1975 gegründet als Verein. Dann kamen die Ulmer, wir haben schon lauter eingetragene Vereine gehabt. Denen wir natürlich auch nicht ins Konzept gucken konnten. Das ist heut noch so. Dass unsere Angehörigengruppen sehr eigenständig sind. Das ist auch gut so. Was kann ich wisse, was in Ulm lauft. Was kann ich wisse, was in Karlsruhe lauft, wenn ich hier in Stuttgart sitz. Die müssen funktionieren.
Ich: Also ist Angehörigenarbeit in erster Linie wichtig vor Ort? So unbestritten der Bundesverband auch ist.
Mocha: Das ist das Grundprinzip. Was wollen Sie mit Angehörigen, die nicht vor Ort sind. Die Frau Lorenz wollte uns immer auf die Schiene bringen: Ihr müsst auch was für die psychisch Kranken tun. Und da haben wir gesagt: „Nein. Für die psychisch Kranken müssen andere da sein. Wir sind für die Angehörigen da.“
Und das ist heute noch meine Intention: Lasst euch nicht davon abbringen. Dem Angehörigen geht’s miserabel. Dem Patient auch. Aber der kommt ins Krankenhaus. Der hat den
Sozialpsychiatrischen Dienst und die Tagesklinik. Wo kann der Angehörige hin? Ich werde einen Teufel drum tun, was viele Angehörige machen. Die werden Kostenträger von irgendeinem Heim oder so was.
Wir sagen: Wir können z.B. gemeinsam mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst bei der Stadt Stuttgart vorstellig werden. Denn wir haben keinen Arbeitgeber über uns. Wir können mit anderen Tönen kommen, wenn wir unbedingt jetzt noch einen Sozialpsychiatrischen Dienst wollen oder eine Tagesstätte. Wir brauchen Tagesstätten. Wir Angehörige sind dafür. Und wie ihr das finanziert, ist euer Problem. Aber wir fordern sie. Wir sind doch die Leidtragenden, die alles auffangen müssen.
Und des ist des, wo wir zu Felde ziehen. Bitte, liebe Angehörige, lasst die Finger von diesen Dingen. Dazu sind Sozialarbeiter, dafür sind die beruflich Tätigen da. Wir können sie unterstützen in der Durchführung ihrer Bedürfnisse. Und wir können anders auftreten den Krankenkassen gegenüber, vor allem der Kommune gegenüber, weil wir unabhängig sind. Das sind die Dinge, wo man klar unterscheiden muss. Wir fordern, nur wir machen es nicht. Wir denken gar nicht dran.
Da ist der Staat in der Pflicht. Der soll gucken, dass er Leute herkriegt, die das machen. Denn meine Leistung, die ich an den Staat erbringe, indem dass ich meine Schwester 24 Stunden am Tag 365 Tage im Jahr um mich habe, wo ich keine Unterstützung kriege. Dann ist es nicht mehr wie recht und billig, dass die wenigstens dafür sorgen, dass die mal drei Stunden am Tag weg ist.
Ich: Und wie viele Jahre war Ihre Schwester jetzt bei Ihnen?
Mucha: Bei mir? Die ganze Zeit. Seit meine Eltern tot sind. Und Tagesstätte und so was, das hat es alles noch gar nicht gegeben.
Ich: Gab es denn damals schon Ansätze von Reformpsychiatrie?
Mucha: Nein. Überhaupt nichts. Gar nix. Das ist erst in den 70er Jahren gekommen, und da war meine Schwester zu alt, da hin zu gehen. Da waren natürlich 20- bis 30jährige.
Ich: Was halten Sie von gemeindepsychiatrischen Angeboten heute? Von Psychosozialen Zentren, Institutsambulanzen, SPD? Sind das Dinge, wie Frau Lorenz gesagt hat, die die Angehörigen entscheidend mit angestoßen haben?
Mucha: Ja. Natürlich. Wir brauchen das. Und das kam ja durch die Psychiatrie-Enquete. Und da wurden wir ja gefragt. Und wissen Sie, wie die Psychiatrie-Enquete überhaupt entstanden ist? Da war Anfang der 70er ein Herr Picard, ein Bundestagsabgeordneter und Hinterbänkler in Bonn, der kam mit der Psychiatrie in Berührung. Und hat diese Missstände gesehen. Das war oft so am Anfang.
Da haben wir Angehörigen uns eingeschaltet. Oft hat der Karlheinz Walter sich mit den Klinikdirektoren abgesprochen, wie man am besten vorgeht, und welchen Part der Angehörige dabei hat.
Ich: Die waren also zugänglich?
Mocha: Da waren die zugänglich.
Ich: Nach der Enquete? Nachdem das öffentlich wurde. Verstehe ich das jetzt richtig?
Mucha: Ja. Da wurden sie zugänglicher. Aber nicht zu viel durfte man machen, gell? Ein bissele. Da haben wir gesagt: „Okay, okay, okay. Dann holen wir die eben zu uns.“ Und sie sind gekommen.
Ich: Wo konnten sich Angehörige damals Hilfe holen? Wer hatte ein offenes Ohr?
Schweigen
Ich: Gab’s da überhaupt was?
Mocha: Aus meiner Sicht nicht. Vielleicht haben andere was gehabt. Ich nicht. Ich hab mir selber geholfen. Für mich gab’s kein Betreutes Wohnen, gar nichts. Ich konnte meine Schwester auch nicht irgendwo hinschicken.
Ich: So die Zusammenarbeit mit der Stadt und Politik, wie funktioniert die?
Mucha: Die funktioniert gut. Da haben wir gute Leute. Überall sitzen Angehörige drin. Das hat zu keinen Kontroversen geführt. Ganz im Gegenteil. Ich muss Ihnen sagen, wir hatten ein sehr gutes Verhältnis zur Politik. Sowohl zur SPD, zur CDU weniger, SPD und Grüne. Das waren unsere Fürsprecher hauptsächlich. SPD, da hatten wir einen Arzt von Schwäbisch Gmünd, der war Psychiatrie-Sachverständiger der SPD. Und der war phantastisch.
Ich: Wo sollten Angehörigenbewegung und Bundesverband Ihrer Meinung nach heute hin?
Pause
Oder wie wichtig ist er noch?
Mocha: Er ist nach wie vor wichtig. Ich sehe in ihm auch eine gewisse Kontrollfunktion gegenüber den Politikern. Dass sie das, was sie immer versprechen, auch erfüllen. Es ist sehr viel erreicht worden – und der Verband muss bestehen bleiben. Denn es kommen immer wieder Winkelzüge, Abweichungen mit irgendwelchen Gesetzen. Oder es wird beschönigt. Die Kontrollfunktion der Angehörigen ist wichtig. So würde ich das sagen.
Ich habe aber auch Angst. Ich hab Angst, weil viele Angehörige sich das Konsumieren angewöhnt haben und kein Engagement mehr haben. Es läuft ja alles so gut. Was soll ich da noch machen? Ich sag: „Wir müssen immer noch trommeln. Klappern gehört zum Geschäft.“ Das müssen wir immer noch machen. Sonst gehen wir unter. Aber es ist schlimm: Wir kriegen für den Landesverband keinen adäquaten Ersten Vorsitzenden, niemand will‘ s übernehmen. Alle Leute: Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass!
Man muss schon ran, und das ist manchmal lästig. Ich war Mitte 40, wo ich angefangen hab. Als ich dann nicht mehr gearbeitet hab, da hat das einfach die Zeit ausgefüllt. Und das sehe ich mit Beängstigung, dass ich sogar schon wütend gesagt hab: „Dann löst doch den blöden Verband uff, dann brauchen wir halt keinen Angehörigen-Landesverband. Wenn die Leute das so wollen, wenn die sich nicht engagieren wollen, und dann höre mer halt uff.“
Ich: Sagen Sie doch noch ein paar Worte zum Länderrat.
Mocha: Seit 95 gibt’s den Länderrat. Der ist draus hervorgegangen, dass der Bundesverband, dass wir uns auf die Länder konzentriert haben und die Einzelmitgliedschaft aufgehört hat. Nur die Ländervertreter kamen. Zu zweit, zu dritt, je nachdem. Der Länderrat ist nicht nur auf den Ersten Vorsitzenden bezogen. Es kommt, wer sich für die Sache engagiert. Wir haben gesagt: Wir müssen voneinander wissen. Da waren die neuen Bundesländer da. Was wissen wir, was in Brandenburg passiert? Was die Bayern machen? Wir müssen doch Kontakt untereinander haben.
Es hat sich viel getan. Und wir hatten noch nie so einen guten Vorstand wie jetzt. Ich würde dem Bundesverband noch eine sehr lange Arbeitszeit gönnen. Wir sind auch europaweit angegliedert an die EUF AMI. Das ist eine sehr gute Sache. Also ich bin froh, dass es den Bundesverband gibt. Und ich wünsche ihm viele aktive Leute. Es ist wahnsinnig schwer, gute engagierte Leute zu kriegen.
Ich: Sie sprachen vom europäischen Verband EUFAMl. War es nicht so, dass andere europäische Ländern schon früher dran waren?
Mocha: Die erste Gruppe war in England. Die entstand etwas früher als bei uns. Da hatte unsere Frau Wingler immer Informationen bekommen. Es ist wirklich so, dass die Stuttgarter Gruppe sowohl Kontakt nach Frankreich hatte als auch Kontakt nach England.
Ich: Bei Ausland fällt mir Inland ein. Das ist zwar nicht ganz mein Thema, interessiert mich aber. Das muss ja wohl ziemlich schnell geklappt haben bei der deutschen Wiedervereinigung, dass da auch die Angehörigenverbände zusammenfanden.
Mocha: Damals bei der Wiedervereinigung, obwohl, die durften das ja damals drüben gar nicht, und da heißt es wieder die richtige Person, zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Und da kam unsere Irene Norberger aus Thüringen. Die kam nach Stuttgart 1991 zu unserem Landestreffen. Und da funkte es sofort. Die Irene Norberger, Sozialarbeiterin in der Psychiatrie, ist Landesfürstin von Thüringen, hatte eine kranke Tochter, die auch Suizid begangen hat. Durch ihr kirchliches Engagement gab es schon früher Beziehungen zwischen Diakonischem Werk und der Diakonie in Thüringen. Das ging schon in den 80er Jahren. Ich war damals noch nicht involviert. Und die Irene Norberger wurde dann eingeladen zu einer Freizeit im Kloster Schöntal. Von da an ging der Kontakt: „Frau Norberger, suchen Sie sich am Büchertisch für hundert Mark Bücher aus. Der Landesverband zahlt.“ Die zog dann mit meiner Schreibmaschine nach Thüringen. lacht
Das war dann der erste Landesverband im Osten. Thüringen mit der Satzung eigentlich von Baden-Württemberg. Dann kamen die Sachsen, die Dresdner. Die sind dann auch zu uns hergekommen, zu einem Landestreffen in Offenburg und kriegten auch wieder Bücher mit. Und wir gingen mal rüber nach Dresden. Bei denen hat sich alles ziemlich schnell entwickelt, aber wieder in eine andere Richtung. Die haben damals schon ein Millionenprojekt für psychisch Kranke in Angriff genommen. Aber in Zusammenarbeit mit dem SPDi (Sozialpsychiatrischem Dienst).
Die Leipziger, die die Angehörigenarbeit machen, die sind auch gut. Und dann natürlich Mecklenburg. Die haben ja alle voll die Strukturen von uns übernommen. Deswegen waren sie so schnell. Sie mussten damals was machen für ihre psychisch Kranken.
Ich: Hat der Expertenbericht der 80er Jahre etwas bewirkt?
Mucha: Expertenkommission. Der hat sehr wohl was bewirkt. Da konnten wir uns drauf stützen bei der Politik und konnten sagen: „Die Expertenkommission hat festgestellt, dass das und das fehlt. Bitte erfüllen Sie das, denn es wurde ja vom Bundestag verabschiedet. Und bitte tut das.“
Ich: Ist da ein Zusammenhang zwischen Psychiatrie-Enquete und Angehörigenbewegung?
Mucha: Das haben wir kurz gestreift. 1973 tagte damals eine Kommission in Bad Boll mit sämtlichen Größen der Psychiatrie: Kulenkampff, Korlach, also der Vater von dem jetzigen
Korlach in Kaufbeuren. Dörner war da. Die hockten alle im Podium, und unten war alles Dr. Dr. Prof. sowieso, und in dem ganzen Gemenge drei oder vier Angehörige. Die Frau Wingler, die Frau Mucha.
Und nachdem wir schon so einen Hals hatten, hat die Wingler gesagt: „Jetzt sag ich was.“ Und die Frau Harmsen war auch da. Die hat schon immer so zu uns hingeblinzelt: „Wann kommt was von den Angehörigen?“ Und da stand die Frau Wingler auf und hat gesagt: „Ich habe keinen Titel. Ich bin nur eine gewöhnliche Angehörige eines an Schizophrenie erkrankten Sohnes. Ich möchte Sie bitten, tun Sie was für unsere Kranken. Aber wenn Sie’s tun, machen Sie’s schnell. Denn wir sind alt“ – damals war sie vielleicht in meinem Alter – „wir sind alt, und wir brauchen Hilfe und unsere Angehörigen auch.“
Und dann war betretenes Schweigen. Dann kam Applaus. Die hat sie alle wieder auf den Boden runtergeholt. Und dann kamen natürlich auch Anfragen, sowohl vom Kulenkampff, das war auf Picards Initiative. Es kamen von vielen Kliniken Anfragen. Die ganzen Klinikchefs von Baden-Württemberg saßen ja da. Da wurden sie wirklich auf uns Angehörige aufmerksam. Und wir wurden gebeten, wir sollten mal kommen, wurden eingeladen und so.
Ja. Und noch mal ebbes. Das ist mir jetzt eingefallen. Hier in Baden-Württemberg, jetzt komme ich schon wieder mit den Baden-Württembergern, das Musterländle, lacht wir hatten schon ganz früh angefangen, wir hatten ja schon überall die Gruppen. Da sind wir auf die Idee gekommen: „Jetzt machen wir mal eine Klausurtagung.“ Wir hatten so nette Leute, die haben wir eingeladen an einen preiswerten Ort, preiswert musste er sein, lacht und haben dann von Freitag bis Sonntag Mittag getagt. Und da wurde unterm Strich der Landesverband angedacht. Das war ab 80.
Da haben wir grundsätzlich im Jahr zwei Klausurtagungen gemacht. Und gekommen sind sie. Da war der Deger-Erlenmaier auch dabei. Da ging’s drum: Was wollen wir, wie soll es in den Gruppen weitergehen? Ich kann Ihnen bloß sagen, das waren ganz tolle Tagungen. Wir haben nicht immer bloß über Psychiatrie geredet. Wir haben uns auch mal was angeguckt in der Nachbarschaft. Zum Schluss haben wir immer mal im „Blauen Bären“ gesessen, oder wir sind abends in ne Weinwirtschaftle gegangen. Und das war schön. Und das war eigentlich das Fundament von unserem Landesverband.
Ich: Und da war ja alles beieinander. Das Konzept, die Selbsthilfe, die Information.
Mucha: Ja. Information, sehr viel Information natürlich. Information ist wichtig. Ein Angehöriger eines psychisch Kranken kann ohne Information nicht leben. Gute Literatur. Ausgesuchte Literatur. Wo keine Hirngespinste drinstehen. Sondern das Bodenständige.
Bei allen Fragen: Was ist, wenn ich kein Kindergeld mehr kriege, wenn die Krankenkasse versagt? Was kann ich tun, wenn mein psychisch kranker Sohn, der in Berlin sitzt, im Krankenhaus ist, wenn er sein Krankengeld nicht zahlt, wenn er alles liegenlässt und nichts beantwortet? Was kann ich als Angehöriger tun, denn ich habe eine Regresspflicht. Und da müssen die Angehörigen informiert sein. Dass sie vorher gucken. Auch wenn dann der Sozialarbeiter sagt: „Ihr Sohn, Ihre Tochter ist volljährig.“ Die sind ja schon dreißig oder noch älter. Da sind sie natürlich volljährig, aber wenn sie nicht voll geschäftsfähig sind in ihrer Krankheit, was dann? Ich will ihnen aber auch die Geschäftsfähigkeit nicht abstreiten. Ich weiß ja nicht, ob sie nicht wieder gesund werden.
Genau da muss der Angehörige informiert werden. Das ist das A und das 0. Und dann fühlt sich der Angehörige auch nicht mehr so belastet. Und nicht mehr so hilflos. Er kann sich unter Umständen helfen. Er schafft das. Und das ist wichtig. Und das wollen sie, die Angehörigen.
Auf der anderen Seite, das muss man ja wissen: Wann werden Sie denn Angehöriger? Kurz bevor Sie ins Rentenalter kommen. Wenn der Patient – nehmen wir mal hypothetisch – 20 bis 25 Jahre alt ist. Und wie alt sind Sie als Eltern, wenn Sie einen 25jährigen Sohn haben? Und dann will ich es erst einmal gar nicht wahrhaben. Nehmen wir mal an, der Angehörige ist 50. Die Krankheit, Oh Gott, nein. Dann dauert es mindestens drei Jahre, wenn nicht vier Jahre, bis der Angehörige es überhaupt akzeptiert, dass er ein krankes Familienmitglied hat. Und dann sucht er Hilfe. Und dann ist er kurz vorm Rentenalter. Und dann müssen Sie erst mal akzeptieren, dass der Sohn nicht der Herr Prof. Dr. Dr. sowieso oder der Herr Rechtsanwalt oder der Herr Daimler-Direktor wird. Der Weg ist lang.
Und da heißt es immer: ja, die Lebenshilfe. Ja, da weiß ich es vom ersten Tag an, wenn ich ein behindertes Baby kriege. Das dauert nicht lange, bis ich das weiß. Und dann kann ich mich in jungen Jahren engagieren in der Lebenshilfe. Und da haben die uns mindestens 30 Jahre voraus. Und sind noch junge Eltern. Und auch quer Beet in allen Schichten. Da spielt es keine Rolle, ob du jetzt der Herr Sowieso oder sonst was bist, die Familie Sowieso. Die engagieren sich, wenn sie ein behindertes Kind haben, auf jeden Fall.
Den Vorwurf haben wir nämlich oft gekriegt: Warum macht Ihr es nicht wie die Lebenshilfe? Ja weil das bei uns eine ganz andere Struktur ist.
Ich: Halten Sie die Entwicklungen in der Gemeindepsychiatrie für wichtig?
Mucha: Ja, unbedingt. Zur Entlastung der Angehörigen. Sehr wichtig. Der zweite Punkt ist: Wie bringe ich meinen Patienten dahin? Das ist noch eine andere Frage. Also ich halte die Angebote in der Sozialen Psychiatrie für äußerst wichtig. Es müssen Angebote da sein, vielfältige Angebote, genau so vielfältig wie unsere Patienten sind.
Ich: Reicht das Angebot aus?
Mucha: Noch nicht.
Ich: Was fehlt Ihnen am meisten?
Mucha: Was ich so höre, würde ich sagen, es fehlt vor allem an Tagesstätten. Es fehlt an niederschwelligem Arbeitsangebot, auch an der Vielfalt, nicht nur immer Schächtele packen, Kugelschreiber zusammenschrauben. Dass sie auf die Bedürfnisse des einzelnen Kranken abgestimmt sind.
Und da kann man nämlich etwas tun: Da hat ein Angehöriger von uns eine Temo-Werkstatt gegründet, „Technische Montage-Werkstatt“ heißt das, für psychisch Kranke, die heute von Profis weitergemacht wird. Von dem „Verein für seelische Gesundheit Ostalpenkreis“. Und diese Werkstatt ist so konzipiert, dass ein Arbeitsplatz unter Umständen drei Mal besetzt werden kann am Tag. Wenn einer ein Frühaufsteher ist, dann kommt er zeitig, ist dann aber sicherlich sehr erschöpft schon um zehn oder um elf. Und dann kommt ein zweiter. Und vielleicht kommt nachher so ein Vogel, der ein Nachtschwärmer ist. Und so sollte man es machen. Abgestimmt auf den einzelnen. Und da sollen die Professionellen wirklich auf die Bedürfnisse eingehen.
Ich: Ich habe schon oft gehört, dass den Angehörigen die aufsuchende Arbeit fehlt. Dass der Psychiater ins Haus kommt, z.B. Wir hatten das kurz mit der Geh-Struktur angesprochen.
Mucha: Ja. Das ist so eine Sache mit der Gehstruktur. Das ist wie mit dem Kinderarzt, der kommt heute auch nicht mehr ins Haus. Aber im Notfall zumindest sollten sie kommen. Es wäre natürlich gut, wenn der Arzt käme, der den Patienten kennt. Denn ich kann es verstehen, dass ein fremder Arzt Schwierigkeiten hat, zu einem Kranken zu kommen, der unter einem gewissen Druck steht. Das ist schwer. Und er kennt ihn nicht und weiß nicht, was er machen soll. Das verstehe ich gut. Das nehme ich ihm noch nicht mal übel.
Ganz schlimm sind vor allem die Krisen- und Notfalldienste. Wir haben einen Krisendienst hier, der aber auch nicht geht, sondern der Patient muss kommen. Und das ist natürlich so eine Sache. Ein Krisendienst muss gehen. Und ich kann nicht den Notarzt holen bei einem eskalierenden Schizophrenen. Denn da kommt von mir aus ein Kinderarzt oder ein HalsNasen-Ohren-Doktor. Und was macht der mit einem, der gerade durchdreht? Also es sollte da eine Art Notfall-Dienst geben, wo eine Person kommt, die sich mit der Krankheit auskennt.
Da wäre eine Geh-Struktur sehr wichtig. Da wäre den Angehörigen viel geholfen. Und es gibt auch bei den Patienten eine Art Placebo-Effekt. Hauptsache, ich habe eine Adresse, wo ich anrufen kann, wenn’s mir schlecht geht. Und dann geht’s mir schon gar nicht mehr so schlecht. Und das wäre diese Stelle.
Wenn die Angehörigen erreichen, dass es einen adäquaten Krisendienst gibt, der aufsucht, ist uns viel geholfen. Wenn ich natürlich höre, den Stuttgarter Krisendienst, den können wir aus Kostengründen nicht weiterführen, weil keine sieben oder acht Patienten kommen pro Woche. Erst ab acht oder neun Patienten ist er tragbar, also kostengünstig, da greif ich mir doch an den Kopf.
Oder man muss es so machen wie eine Freundin von mir, deren Sohn auch schizophren ist und der gesagt hat: „Mutti, gehst du mit mir ins Bürgerhospital? Ich muss eingewiesen werden. Mutter, ich spüre es.“ Und dass ist der Patient, wo alleine ins Krankenhaus geht. Das ist nicht die Regel. Und der kommt dann hin zum Krisendienst, meine Freundin ist mitgegangen, saß daneben und hat den·Sohn reden lassen. Na, der Arzt hat dann gesagt: „Sie brauchen doch gar nicht ins Krankenhaus. Sie sind doch in Ordnung.“ Da sagt er: „Ich spüre es doch, wie es in mir aussieht. Ich brauche jetzt eine Einweisung. Ich weiß nachher nicht, was mit mir geschieht.“ Hat der also wieder dasselbe gesagt. Meine Freundin hat nichts gesagt, die kennt ihren Sohn. Das ging eine Viertelstunde. Da fing der D. an, mit beiden Fäusten auf dem seinen Schreibtisch rumzutrommeln und zu schreien: „Werde ich jetzt eingewiesen ins Krankenhaus oder nicht?“ Da hat der Arzt gesagt: „Sind Sie auch mit einem Bett auf dem Korridor zufrieden?“ Da hat der D. gesagt: „Das ist mir wurscht, aber ich brauche Behandlung.“
Und das ist das jetzt wieder. Bett auf dem Korridor, was nicht sein sollte, und woher kommt das? Bettenabbau. Und wir brauchen sie, die Betten. Man braucht beides: Dezentralisierung und Betten. Und des ist der Horror für uns Angehörige: Ein Kranker in Psychose wird nicht eingewiesen.
Ich: Weil Krankenhäuser eben auch ihre Berechtigung haben, wenn sie gut geführt werden?
Mocha: Ja. Und schafft die Krankenhäuser nicht ab. Das war natürlich die Intention von unserem SPD: ab nach Italien. Und da haben sie gelärmt und gemacht und denen alle Türen aufgemacht, und die psychisch Kranken waren draußen. Lacht Und da war in Italien diese Angehörigenbewegung. Und die Patienten waren nachher in die Obdachlosigkeit entlassen.
Das ist auch noch mal was, was wir Angehörigen uns wünschen. Es aufzufangen, nach dem Klinikaufenthalt, die nachher begleitende Psychiatrie, die die Patienten unterstützt und auf sie ein Auge hat. Oder wenn er einfach abhaut. Oder nach vierzehn Tagen schon entlassen wird. Das ist ja das Furchtbare bei uns.
Und da haben wir Angehörige berechtigte Sorgen, dass die Psychiatrie in eine Richtung geht, die wir Alten nicht annehmen können. Die wir absolut nicht akzeptieren können. Aber das sind meine Wünsche fürs Jahr 2100.
Wir müssen auf dieses hochgelobte Betreuungsgesetz aufpassen. Das Recht, dass der Patient sich nicht behandeln lassen muss. Dass er rauskommt nach drei Tagen. Das sind alles diese furchtbaren Befürchtungen von den Angehörigen. Und wenn Sie dann so einen blöden Amtsrichter haben, wie ich ihn kennen gelernt habe, auf gut Schwäbisch: „Der wird eingewiesen, wenn er da oben auf der Eichtalbrücke steht.“ Die ist 40 Meter hoch.
Ein alter Spruch von uns Angehörigen: „Erst muss Blut fließen, bevor er eingewiesen wird.“ Und das Schlimme ist: Muss ein psychisch Kranker erst straffällig werden, bevor er eingewiesen wird? Und dann ab in die forensische. Also die Einweisungspraktiken. Die Angehörigen haben Angst davor, dass der Patient nicht eingewiesen wird, dass er in seiner Krankheit straffällig wird. Und da kann ich Ihnen ein Beispiel geben.
Übrigens, ein Tipp von den Angehörigen: In Baden-Württemberg sagen wir das immer. Wenn du jetzt merkst, die Psychose kommt und die schaukelt sich hoch, dann geh zum Gesundheitsamt, geh zur Betreuungsbehörde. Und dann wird der Patient vorgeladen. Da sind die zehn Minuten so drauf, dass sie sich mit denen unterhalten, wie wir uns jetzt unterhalten. Das kennt jeder. Und dann gehen sie raus. Und werden wieder nicht eingewiesen. Und dann empfehlen wir unseren Angehörigen: Schreiben Sie an diese Stelle: „Der Patient ist krank, die Psychose kommt, ich sehe es aus meiner langjährigen Erfahrung. Ich möchte Sie bitten, dass der Patient eingewiesen wird, bevor etwas passiert. Ich als Angehöriger kann für die Folgen nicht mehr garantieren. Ich kann nicht garantieren, dass mein Patient nicht irgendwelche Handlungen begeht.“
Es ist passiert, der Vater hat geschrieben. Das machen jetzt viele Angehörige, die schalten das Amt ein: „Ich übergebe Ihnen die Verantwortung.“ Der Satz muss sein. „Sie haben den Patienten gesehen. Er ist schwerkrank, und ich kann die Verantwortung nicht mehr übernehmen. Ich übergebe sie Ihnen.“
Und der junge Mann damals, weil die Eltern gesagt haben, „es geht nicht, du musst jetzt in ein Betreutes Wohnen oder sonst wo, du kannst bei uns nicht mehr wohnen“. Und da kam er in so ein Hotel, so ein Billighotel. Und was hat er gemacht? Er hat das ganze Zimmer zerdeppert. Da wurde er eingewiesen. Da war er dann innerhalb einer halben Stunde in der Psychiatrie. So. Nachher wurde er entlassen, und dann kriegte er eine Rechnung von der Stadt über 9.000 Mark. Kosten des Hotels. Da hat der Vater sich einen Rechtsanwalt genommen und all die Unterlagen dazu gegeben und hat gesagt: „Ich habe der Stadt, dem Gesundheitsamt mitgeteilt, dass ich die Verantwortung nicht mehr übernehme. Sie hätten ihn einweisen sollen. Sie haben es nicht gemacht, ja bitte, jetzt müssen sie auch die Folgen tragen. Und nicht mein Sohn. Denn der ist krank.“ Und da ist nichts mehr gekommen. Und deshalb empfehlen wir allen, wenn so eine prekäre Situation ist, dass sie schreiben. Es bitte schriftlich machen. In Gottes Namen.
Ich: Damals, als die Bewegung anfing, hatte man ja gar nicht die Information.
Mucha: Ja. Und deshalb sind wir Alten dabei, den Jungen diese Informationen weiterzugeben. Und darum Angehörigenarbeit.
Ich: Wobei wir wieder beim Punkt sind.
Mucha: Wobei wir wieder beim Punkt wären, warum Angehörigenarbeit wichtig ist.
Ich: Welche Erfahrungen führten letztlich bei Ihnen zur Entscheidung zu handeln?
Mucha: Die pure Not. Und die pure Unwissenheit der Profis, wie es in den Familien zugeht, denn die hatten ja keine Ahnung davon. Dass die Mutter in Schach gehalten wird, wenn der Sohn eine Psychose hat. Oder wenn die Tochter die unsinnigsten Dinge tut, Wäsche wäscht und die klitschenass in den Sessel drückt und sich draufsetzt. Was machen denn die kranken Leute nicht für blödes Zeug? Pause Die pure Not. Ja, wenn’s uns gut gegangen wär, hätten wir doch nichts gemacht. Warum haben sich die Diabetiker zusammengeschlossen? Die Krebskranken? Sie brauchen Hilfe.
Ich: Was hat Ihr Engagement in der Angehörigenbewegung bewirkt, wem hat es geholfen?
Mucha: Das weiß ich nicht. Da müssen Sie die anderen fragen. Lacht herzlich
Ich: Würden Sie es aus heutiger Sicht alles noch mal so machen?
Mucha: Ja, natürlich. Wenn ich wieder genauso betroffen wäre, ganz egal, ich würde mich auf jeden Fall engagieren.
Ich: Sie haben ja mit Ihrer Angehörigenarbeit auch viel erreicht.
Mucha: Ja, ich würd schon sage. Man nimmt die Angehörigen wahr. Angehörige sind auch Menschen. Herzliches Lachen