Eine Befragung von Zeitzeugen zu den Anfängen der Angehörigenbewegung

Sabine Hummitzsch (2002)

Diplomarbeit im Studiengang Sozialwesen an der Fachhochschule Wiesbaden

3.2 Interview Hildegunt Schütt, Bonn, S. 38-50

3.2.1 Vorstellung der Person

Hildegunt Schütt wurde am 27. August 1926 in Neumarkt in der Oberpfalz geboren und lebt seit 1950 in der Bonner Region. Sie wuchs in einem sozial und musisch geprägten Elternhaus auf. Kunst und Musik spielten von klein auf eine große Rolle in ihrem Leben. Hildegunt Schütt erhielt eine Gesangsausbildung, spielte die Orgel und sang im Kirchenchor. Sie engagierte sich in der Jugendarbeit, studierte Musik und wurde Kinderkrankenpflegerin. Ihr Ehemann, ein Architekt, starb 1996 mit 72 Jahren an Krebs. Aus ihrer langjährigen Ehe stammen acht Kinder. Eine Tochter ist psychisch krank und lebt heute bei ihrer Mutter in der Einliegerwohnung. Ihre verheirateten Geschwister halten zu ihr und sind eine wichtige Anlaufstelle für die erkrankte Schwester.

Frau Schütt gehört zu den Urmüttem der Angehörigenbewegung. Sie war die erste Vorsitzende des 1985 gegründeten BApK. Dieses Amt füllte sie acht Jahre engagiert und erfolgreich aus, keine einfache Aufgabe in der durchaus schwierigen Aufbauphase, in der es galt, Strukturen zu schaffen und die teils eigenwilligen Landesverbände unter einen Hut zu bekommen. Heute noch ist sie Ehrenvorsitzende des BApK.

Neben dem Engagement im Bundesverband steht der Name Hildegunt Schütt ebenso für den Bonner Verein „Hilfe für psychisch Kranke e.V. Bonn/Rhein-Sieg“, den sie 1980 mitbegründet hat. Heute noch ist die 75jährige dort stellvertretende Vorsitzende. 1983 war sie Initiatorin eines Arbeitstrainings für psychisch kranke Menschen. Daraus sind bis heute auf dem ersten Arbeitsmarkt cirka 30 Arbeitsplätze entstanden. Als der BApK 1990 Gründungsmitglied des europäischen Angehörigenverbandes EUF AMI wurde, war Hildegunt Schütt dabei und gehörte zu den Unterzeichnern der Gründungsurkunde.

Ich besuchte Frau Schütt – sie war meine zweite Interview-Partnerin – am Montag, 14. Januar, zu Hause. Unser Gespräch dauerte gut vier Stunden. Hildegunt Schütt ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie maßgeblich am Aufbau der regionalen Angehörigenarbeit und des Bundesverbandes beteiligt war.

Nomen est Omen, meint Frau Schütt. Der Name Hildegunt, so sagt sie, beinhalte zweimal Kampf. Und so gehöre es zu ihrem Naturell, dass sie sich den Problemen und Schwierigkeiten in ihrem Leben stelle, sie am Schopf packe und nicht lange zaudere und verzweifle. Das verdanke sie ihrem Gemüt und ihrer Religiosität.

1977 erkrankte Hildegunt Schütts Tochter. Damals begann für Hildegunt Schütt die Angehörigenarbeit. Ihr war sofort klar, dass man als Einzelner nichts erreichten konnte. Sie
wusste, die betroffenen Familien brauchten Rückenstärkung und Information.

Frau Schütt benennt zwei Hauptströmungen im BApK, die es über Jahre gegeben habe. Zum einen die therapeutische Richtung, die durch Zuwendung und Gespräche in den Gruppen die Angehörigen befähigen sollte, ihr Schicksal zu verarbeiten. Dabei tauchte ein Problem auf:
Nach einer Weile, wenn die Angehörigen einigermaßen gestärkt waren, gingen sie wieder ihrer eigenen Wege und verließen die Gruppen. Dadurch gab es wenig kontinuierliches Arbeiten. Frau Schütt stand, wie sie sagt, für die zweite Strömung innerhalb des Verbandes:
Angehörigengruppen schlossen sich zu eingetragenen gemeinnützigen Vereinen zusammen, um konzeptionell und langfristig planen und arbeiten zu können.

Hildegunt Schütt wünschte sich den Zusammenhalt zwischen Landesverbänden und Bundesverband, was sich im Laufe ihres achtjährigen Bundesvorsitzes oft als schwierig und zäh
erwies. Neben dem Selbsthilfegedanken für Angehörige war es ihr immer ein Anliegen, auf Bundesebene eine effiziente Verbandsstruktur aufzubauen, getragen von den Landesverbänden.

Beharrlich sollte ihrer Meinung nach der Bundesverband seine Ziele abstecken und verfolgen. Es sei wichtig, in den zuständigen Gremien zu sitzen, um so die Anliegen der Angehörigen an die richtigen Stellen zu transportieren und in die Sozialgesetzgebung einfließen zu lassen. Frau Schütt ist der festen Überzeugung, dass auch heute auf den BApK nicht verzichtet werden kann und darf.

3.2.2 Auszüge des Interviews

Schütt: Ich bin Ehrenvorsitzende des Bundesverbandes für Angehörige psychisch Kranker, habe ihn mitgegründet 1985 und war acht Jahre lang Vorsitzende im Aufbau des Bundesverbandes.

Ich: Wann erkrankte Ihre Tochter?

Schütt: Das war so um das Abitur. Das war 1977. Also die ersten Symptome, im Rückblick gesehen, sind sicherlich schon früher auf getreten. Das waren manische Phasen, die man noch nicht so einschätzen konnte. Und aufmerksam sind wir eigentlich erst durch eine depressive Phase geworden. Als sie nichts mehr tat und nichts mehr aß.

Später ging das dann noch einmal in eine furchtbare Hektik über, wo sie überhaupt nicht zur Ruhe kam. Das hat sich natürlich auf die Familie immens ausgewirkt. Das hat auch unseren jüngsten Sohn fast ein Schuljahr gekostet. Er war gerade ins Gymnasium gekommen, und ich hatte gar keine Zeit mehr. Und das war dann auch der Anlass, dass unsere Tochter in die Klinik ging. Eigentlich freiwillig auf Anraten der Ärztin, die doch so viel Zugang zu ihr fand.

Ich: Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen den Geschwistern in der Familie?

Schütt: In der Familie blieben die Kinder ihr zugewandt. Auch jetzt, wo sie eigene Familien haben. Sie hat natürlich viel Zeit zum Grübeln. Und dann ruft sie schon mal dort bei dem einen oder andern an, vielleicht auch mal öfter, und dann haben die auch Geduld. Manchmal sagen sie aber auch: „Hör mal, du kannst nicht erwarten, dass wir ständig deinen Akku füllen. Du musst auch selber was tun. Und das finde ich ja auch sehr gesund, dass immer wieder solche Anstöße und Forderungen an sie herangetragen werden. Und sie tut das dann auch. Und wenn sie vernünftig mit ihrer Medikation umgeht, dann ist sie auch ein Mensch, der was bringt und der sehr liebenswürdig ist.

Ich: Sie haben gesagt, dass Ihre Kinder früher wie Pech und Schwefel zusammengehalten haben und auch Ihr Mann alles mitgetragen hat?

Schütt: Ja. Auf jeden Fall. Auch in meiner Nachbarschaft habe ich mich nie verstecken müssen mit meiner Tochter. Die Kinder sind zusammen aufgewachsen. Als dieser Einbruch kam, da waren alle Nachbarn offen für mich und auch für sie. Wenn sie auch manchmal genervt waren, aber das Verhältnis blieb gut.

Ich: Glauben Sie denn, dass Ihre Rolle als Angehörige einer psychisch kranken Tochter auch irgend etwas Positives gehabt hat? Kann man dem überhaupt etwas Positives abgewinnen?

Schütt: Also, ich muss ehrlich sagen, sozial eingestellt war ich immer und sind auch viele meiner Kinder. Ich denke, es hat schon was gebracht. Es erweitert den Blick. Ich bin durch den Bundesvorsitz in ganz Deutschland zu Hause und kenne überall Leute, mit denen ich mich gut verstehe.

Ich: Was macht Ihre Tochter zur Zeit? Ist sie in der Gemeindepsychiatrie eingebunden?

Schütt: Ja, ganz lose. Da ist so ein aufsuchender Dienst. „Begleitender Dienst“ nennt sich das. Und wenn sie will, dann kommt jemand, und wenn sie nicht will, dann lässt sie es. Dann kriegt sie mal ein Kärtchen und mal einen Gruß. Also es ist im Moment ganz locker. Wie es mal wird, wenn ich nicht mehr bin, weiß ich nicht. Sie hat jetzt nach fünf Jahren Pause wieder begonnen zu arbeiten, knapp fünfzehn Stunden.

Ich: Wissen Sie, was Ihre Tochter von den Angehörigen hält?

Schütt: Manchmal ist es ihr zuviel, und sie sagt: „Warum gehst du da immer hin?“ Aber manchmal geht sie auch mit, wenn irgendwo etwas Nettes los ist oder so. Jetzt im Augenblick ist sie wieder ein bisschen zurückhaltender, aber das ist auch sehr wechselhaft.

Ich: Sie sind bestimmt stolz auf Ihre Familie?

Schütt: Ja, bin ich auch. Weil sie alle Abitur oder Fachabitur geschafft haben. Und das war auch mein Ziel, jedem Kind gerecht zu werden. Es zu fördern, wo Anlagen da sind, und halt auch loszulassen, wo es nötig ist.

Ich: Wie kam es zur Gründung des Bundesverbandes? Was gab den Ausschlag?

Schütt: Es gab Angehörige versteckt im „Dachverband Psychosozialer Hilfsvereinigungen“ und zwar bei den Bürgerhelfern. Das war in der Zeit von 1980, kann man sagen. 82, 83, da hat der Dachverband schon mal versucht, Angehörige in einer Tagung zusammenzufassen. Das war doch damals so: Wenn die Angehörigen sich äußern mussten, brachen die meisten in Tränen aus. Die Belastung und die Nerven sind nicht mehr die besten, wenn man nicht weiß, welche Hilfen man überhaupt bekommen kann.

Denn meistens sind die Angehörigen ja die letzten gewesen, die angehört wurden. Nach wochenlangem Plagen mit dem Auftreten der Neuerkrankung waren die Nerven der Angehörigen strapaziert. Da konnten sie sich dann oft weniger gut darstellen, wenn sie mal einen Fachmann zu fassen bekamen, als der Betroffene selber. Man hat manchmal schon gespürt, dass die Profis dachten: Eigentlich sind‘ s die Angehörigen, die krank sind.

Und wie es dazu kam, überhaupt den Angehörigenverband zu gründen: Das hat sich eigentlich aus dem Sprecherkreis ergeben, der sich gebildet hat, nachdem verschiedene Tagungen mit Angehörigen gelaufen waren. Als eine gute Entwicklung der Arbeit des Bundesverbandes ist meines Erachtens erst einmal anzusehen, dass die Angehörigen ihre Sprache gefunden haben.

Ich: Sie sagten, dass Sie einen Verband schaffen wollten, der die Bedürfnisse in die Gremien trägt, damit die Anliegen an die richtigen Stellen kommen. Ist das so richtig?

Schütt: Ja, da gab es in der Entstehung der ganzen Angehörigenarbeit das Bemühen, erst mal therapeutisch zu helfen. Das waren dann Gruppen mit sechs bis zwölf Leuten, wo man hoffte, die Bedürfnisse auffangen zu können. Wir nannten das eben therapeutische Gruppen. Die sind oft jahrelang gut gegangen, aber zum Teil haben sie sich immer wieder erschöpft. Die Leute sind weggeblieben. Es ist vielleicht ein ganz kleiner Stamm geblieben, der sich gut verstand und dann vielleicht immer wieder zusammenkam.

Aber für mich war von Anfang an klar, dass man eigentlich mehr braucht. Man müsste zusammen bleiben. Man müsste auch eine gewisse Verpflichtung haben, um zusammen zu bleiben. Und das geht eigentlich nur mit einem Verein. Und wir in Bonn haben uns z.B. sehr schnell entschlossen, einen Verein zu gründen mit einem Vorstand, der sich dann auch Aufgaben gestellt hat.

Der Bundesverband ist auch aus dem Bedürfnis entstanden, erst einmal die Angehörigen insgesamt vertreten zu können und auch ein Dach zu bieten, unter dem sie sich sammeln konnten. Wo man die Bedürfnisse der Angehörigen aufnehmen konnte, um sie weiter zu transportieren. Und das führt dann auch sehr schnell an die Stellen, wo etwas bewirkt werden kann: nämlich neben der Politik die Ministerien und die Ämter, die dafür verantwortlich sind.

Ich: Was gab letztlich für Sie den Ausschlag, sich in der Angehörigenarbeit zu engagieren?

Schütt: Als meine Tochter erkrankte, war mir sofort klar, dass man als einzelne nichts ausrichten kann. Dass eine Familie ohne Rückhalt – und wo sollte der damals herkommen? – allein auf verlorenem Posten stand. Das war der Beginn meiner Angehörigenarbeit. Mir war klar, dass es wichtig ist, dass Angehörige sich zusammenschließen und gemeinsam ihre Interessen vertreten.

Ich: Sie erlebten damals, als Ihre Tochter erkrankte und Sie schon jahrelang in der Praxis einer Psychiaterin tätig waren, auch dadurch Verbindungen hatten, dass eine Psychiaterin zu Ihnen ins Haus kam. Diese aufsuchende Arbeit wird ja heute noch von den Angehörigen gefordert. Können Sie dazu noch mal kurz etwas sagen?

Schütt: Ja. Das ist mir natürlich damals gar nicht so aufgegangen, dass das anderen Angehörigen fehlt. Ich war sehr froh, dass sie kam und mir das auch angeboten hat, weil man ja sehr verunsichert ist in dieser ganzen Zeit.

Es gab noch gar keine Diagnose und gar nichts. Meine Tochter bekam einfach nur eine Spritze, und es musste beobachtet werden, ob da Schwierigkeiten auftreten. Wenn dieses und jenes passiert, dann wollte die Ärztin eben kommen. Und das war für mich schon eine große Beruhigung. Und auch andere Verhaltensmaßregeln kannte ich durch meine Arbeit oder erfuhr ich auf Anraten der Ärztin. Meine Tochter konnte damals zuerst auch zu Hause bleiben.

Erst hat man gesagt: „Ja, das ist eine Entwicklungsstörung.“ Das hören wir ja in unseren Gruppen auch immer wieder. Und immer wieder passiert es, dass wir im Laufe so einer Entwicklung, dieser phasenhaften Verläufe, unterschiedliche Diagnosen hören. Das ist ja gang und gäbe. Erst hören sie schon mal nix, weil die Ärzte auch vorsichtig sind bei jungen Menschen, denen da gleich mit so einem Hammer zu kommen.

Ich: Das ist ja grundsätzlich auch richtig.

Schütt: Ja, das würde ich auch so sehen. Ich hätte mich vielleicht auch verwahrt, wenn mir da gleich jemand was Knallhartes um die Ohren gehauen hätte.

Ich: Sie sagten vorhin, als Ihre Tochter krank wurde, da wussten Sie das schnell einzuordnen. Ich glaub, da war der Onkel Ihrer Mutter, der eine Katatonie hatte?

Schütt: Ja. Es hat mich daran erinnert und mir schwante schon, dass das, wenn es in diese Richtung geht, eine ganz, ganz schwierige Sache wird. Durch meine Zusammenarbeit mit
Psychiatern wusste ich natürlich mehr als jemand, der davon völlig überrascht wird.

Ich: Sie sagten, Sie haben acht Kinder. Das ist eine wirklich große Familie.

Schütt: Ja, das war auch mit ein Grund, dass ich einen sehr bewussten Standpunkt hatte, um Schuldzuweisungen, die ja doch immer irgendwie zu spüren waren, begegnen zu können. Ich habe immer gesagt: „Wieso soll ich bei einer was falsch gemacht haben, wo die andern alle das Leben gepackt haben und ein gutes Verhältnis zur Familie haben?“

Ich konnte das Ganze auch tragen durch den Zusammenhalt mit meinem Mann und durch die anderen Geschwister. Durch die gesunden Kinder, das hat ja auch was ausgemacht. Dass ich mir nicht hab sagen lassen müssen, ich hätte so viel falsch gemacht, dass da nichts Gescheites hätte rauskommen können.

Ich: Wäre das viel schwerer gewesen, wenn Sie nur zwei Kinder gehabt hätten oder nur eins?

Schütt: Ja. Das mit Sicherheit. Ich kann mich gut an Tagungen erinnern in der Landesklinik, eine Psychologin aus der Universität, die hatte dann das Thema drauf: „Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen.“ Und da ging es dann auch drum, was sie alles falsch gemacht hätte, und dann brachte sie von sich Beispiele usw. Es waren sehr viele Angehörige da vertreten. Die standen plötzlich auf und sagten: „Wir können es nicht mehr hören.“ Da hat sie gesagt: „Wenn ich gewusst hätte, dass hier so viele Angehörige sind, hätte ich es anders konzipiert.“ Lacht Aber der Grundgedanke war da.

Als Nachwehen der 68er Jahre war es schon so, dass man dem Establishment und somit auch der Familie immer Fehlverhalten vorgeworfen hat. Da habe ich schon Stellung bezogen. Und mein Eindruck war, wenn alle Angehörigen – und das hat sich eben später gezeigt, dass es sehr viele gab, die hilflos waren – eine Unterstützung von Profis, so eine partnerschaftliche Unterstützung finden könnten, wie sie mir geboten wurde, das würde sehr viel erleichtern.

Das ist natürlich immer das Dilemma. Wenn sich Situationen schon zugespitzt haben, der Betroffene, sagen wir mal, sich von den Familien oder den Eltern entfernt, dass der Arzt dann Schwierigkeiten hat, das Vertrauen des Patienten zu behalten, wenn er anderen etwas über ihn erzählt. Da muss man irgendwie einen Weg finden, dass man gemeinsam spricht oder wenigstens die Erlaubnis von dem Betroffenen erhält, sich mal mit dem Arzt unterhalten zu können. Denn die Ausrede, ich verliere das Vertrauen meines Patienten, das ist ja heute noch gang und gäbe.

Ich habe Verhaltensweisen von Psychiatern kennengelernt Angehörigen von psychisch Kranken gegenüber, die ganz abwehrende Gesten machten, wenn nur das Gespräch auf die Angehörigen kam. Das schien mir sehr deprimierend, wo man doch Hilfe brauchte. Andererseits wieder wurde mir dann gesagt: „Lesen Sie nicht so viel, das schadet nur.“ Mir hat Lesen aber geholfen.

Ich: Gab es damals in der Anfangszeit Information für Angehörige?

Schütt: Nur sehr wenig. Als wir unseren Bonner Angehörigenverein gründeten, war das ein wichtiger Punkt. Da haben wir gesagt: „ Wir brauchen Informationsaustausch und Information von Profis.“ Wir hatten Glück. Es gab eine Ärztin in Bonn, die aus Bulgarien kam. Die war es von dort her gewohnt, Hausbesuche zu machen und Angehörige wahrzunehmen. Sie hat uns sehr unterstützt. Wenn sich bei uns Fragen im Angehörigenkreis gesammelt hatten, konnten wir sie anpiepsen, und sie kam. Und es gab dann immer eine sehr lebhafte Diskussion.

Ich: Welche Widerstände gab es gegen die · Angehörigenbewegung damals, als die ersten Angehörigen sich zusammenschlossen? Noch vor dem Bundesverband.

Schütt: Ich denke, es waren eher persönliche Vorbehalte von diesem und jenem. Abgesehen mal von bestimmten Ärzten, die Abstand halten wollten, waren es auch Hilfsgruppen wie Klubs, die, als ich das erste Mal da war, sehr komisch geschaut haben und dann flüsterten: „Jetzt kommen auch schon die Angehörigen.“

Das war aber, denke ich, nicht das Primäre, dass die Angehörigen sich zusammengeschlossen haben, sondern meines Erachtens war der Druck auf die Familien und besonders auf die Frauen sehr groß. So kamen auch sehr viele Frauen als erste in die Angehörigengruppen. Und ich habe es oft erlebt, dass die Männer den Frauen sogar verboten hatten hinzugehen, als unser Verein schon bestand. Erst ganz langsam sind dann die Männer dazugekommen. Abgesehen von wenigen, die sofort begriffen haben, dass man da mehr tun muss als nur eine Klagemauer zu bieten.

Ich: Wie war das damals in den 70ern und frühen 80ern?

Schütt: Das hat doch länger gedauert, bis sich in den Gemeinden etwas formiert hat. Es gab ja auch von den Stellen und der Bezahlung her außerhalb der Kliniken nichts.

Ich entsinne mich gut an eine Tagung in Berlin. Da sprach mich ein Arzt an und sagte: „Ich möchte an unserer Klinik eine Angehörigengruppe haben. Würden Sie mal kommen? Aber alles, was ich außerhalb der Klinik mache, stehle ich eigentlich der Zeit dort.“

So, denke ich mir, ist die Angehörigenbewegung und vor allem die Psychiatrie-Enquete erst mal in Gang gekommen. Dass die Ärzte rausgegangen sind und auch draußen mitgemacht haben. Zum Beispiel hat sich 1980 gleichzeitig mit uns der Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie gegründet. Da waren Ärzte, Sozialarbeiter, ein paar Psychologen, die haben sich halt erst mal zusammengefunden. Und das hat sich ja auch später zum multiprofessionellen Team entwickelt.

Ich: Also gab es damals noch keine Gemeindepsychiatrie?

Schütt: Damals nein.

Ich: Und in der Klinik auch noch keine Angebote für Betroffene und Angehörige?

Schütt: Nein, nein, da gab es nichts. Ich kann mich noch gut entsinnen, wie oft wir da gesessen haben mit drei Männeken und versucht haben, irgend etwas in Gang zu bekommen. Oder wie oft der Bonner Verein irgendeinen Anlauf genommen hat, z.B. eine Backstube einzurichten mit Cafä oder sonst was. Das ist am Anfang alles daneben gegangen – und heute hat der Bonner Verein einen Riesenumsatz. Und bietet ein dichtes Netz an ambulanten Hilfen.

Ich: Schreiben Sie da der Angehörigenbewegung eine Bedeutung zu? Dass die Angehörigen vieles in Gang gebracht haben?

Schütt: Ja. Da bin ich überzeugt von. Erstens mal hatten die Angehörigen durch eine Gruppe oder einen Verein einen besseren Rückhalt, wenn sie sich gegenüber den Profis vertreten mussten. Sie wurden ganz anders wahrgenommen. Das war schon mal ein Punkt.

Und es hieß ja dann, in die Gremien sollten Angehörige, um die Belange der Betroffenen zu vertreten. Das war in der Zeit, bevor die Betroffenen selbst sich formiert haben. Und da war es schon eine Aufgabe für die Angehörigen zu wissen, was sie verlangen sollten und was sie sagen sollten.

Das hat dazu geführt, dass Seminare und Tagungen stattfanden, wo man nun gegenseitig das Wissen austauschte und von Fachleuten Informationen bekam. Und wo dann auch Politiker eingeladen wurden, die dann mal Statements abgeben mussten: Was sie überhaupt darüber denken über die ganze Psychiatrie und über die Angehörigen insgesamt usw. Das war schon eine große Entwicklung, dass die Familien überhaupt wahrgenommen wurden.

Die Aufbauzeit des Bundesverbandes war ja erst mal, ein Dach zu bieten. Dass Angehörige sich hinter ihre Bedürfnisse stellten, sich äußern konnten und das auch festgehalten wurde.

Ich: Mir fällt ein, als ich Sie fragte, mit welchen Zielen sind Sie damals aufgebrochen, da haben Sie gesagt: Ich wollte in erster Linie die Angehörigen hinter dem Ofen hervorlocken.

Schütt: Ich habe aber sehr schnell gemerkt, dass das ein Weg ist, wo man sich irre verzetteln kann. Und als dann der Dachverband uns sozusagen ein Podium bot, wo man zu fassen bekam, was denn notwendig würde, und sich auch zielgerichtet an die richtigen Leute wenden konnte, das war schon eine Hilfe. Auch wenn heute der Bundesverband schon sehr selbständig dasteht, aber diese Startphase, das war ein Glücksfall für den Bundesverband in meinen Augen.

Ich: Wie verhielten sich die Psychiatrie und die dort Tätigen damals? Sie sagten auch, das Fachpersonal, also Ärzte, Pfleger, Psychologen, gingen nicht gerne raus aus der Klinik?

Schütt: Ja. Die Gesetze waren zum Teil auch so, dass z.B. Ambulanzen nicht rausgehen durften, weil die niedergelassenen Ärzte das als ihr Terrain empfanden. Das schon mal – und außerdem gab es auch Ängste. Es gab ja in der Entwicklung nach der Psychiatrie-Enquete Vorstellungen, große Krankenhäuser aufzulösen und Abteilungen an die normalen Krankenhäuser anzugliedern. Was zum Teil ja auch passiert. Und das hat natürlich manchem Angst gemacht, der in der Klinik seine feste Stelle hatte.

Aber ich vergleiche das immer mit der Zeit nach der Wende, wo wir in den Osten gingen, um dort auch Landesverbände aufbauen zu können oder die Angehörigen aufzubauen. Da haben wir auch Profis erlebt, die sahen total schwarz, die dachten, ihre ganzen Institutionen brechen jetzt zusammen, und sie sind dann arbeitslos. Und da konnte ich immer sagen: „Wenn Sie arbeitslos sind, haben Sie ja ein Auskommen und können ehrenamtlich das aufbauen, was Sie für nötig halten.“

Die ganze Gemeindepsychiatrie im Westen ist eben auch entstanden, indem einige was getan und aufgebaut haben, was sich dann als richtig erwiesen hat. Wo man dann Forderungen stellen konnte: So muss es gehen.

Ich: Was hatten denn Angehörige in den 70er, 80er Jahren für einen Stand in der Klinik?

Schütt: Also, ich würde sagen, abgesehen mal von dem Glücksfall, dass diese Ärztin Abteilungsärztin wurde in Bonn, wir dort immer Gastrecht hatten in der Cafeteria und unsere
Treffen dort abhalten konnten, war es trotzdem auf den Stationen so, dass die Angehörigen meistens nicht angehört wurden.

Ich: Wie war die Atmosphäre in den Anfangszeiten der Angehörigenbewegung und der Entwicklung der Reform- und Gemeindepsychiatrie?

Schütt: Damals wehte so ein Geist der Neugestaltung. Da gab es Leute, die hatten zusammen studiert, die hatten Vorstellungen, und die wollten sie jetzt umsetzen. Ja. So habe ich das erlebt.

Manche sind ja ziemlich gegen die 68er Bewegung. Aber ich habe selbst Kinder, die nach 68 noch studiert haben. Ich empfand die Entwicklung hin zu neuen Dingen und zu einer neuen Sicht, auch was jetzt Kliniken angeht und auch was die Bewegung, sagen wir mal, in der ganzen Gesellschaft angeht, als sehr fruchtbar. Wenn ich auch immer gehofft habe, dass die extremen Entwicklungen sich zurückbilden und das bleibt, was gut davon ist.

Und so habe ich auch die Gemeindepsychiatrie und die Entwicklung dahin erlebt. Also es hatten Leute, die zusammen studiert haben, wirklich eine Vorstellung davon, wie es aussehen muss, um einen psychisch erkrankten Menschen in seinem Lebensumfeld zu halten. Und die haben da wirklich zusammengewirkt. Ich bin heute noch glücklich darüber, dass ich diese Menschen kennengelernt habe.

Ich: Aber das waren nicht alles Mediziner?

Schütt: Nein, nein. Das waren auch, ich weiß gar nicht, welche Ausbildung die hatten. Z.B. gab es Journalisten, es gab auch Verwaltungsleute, es waren nicht nur Ärzte – aber es waren auch Ärzte. Und ich denke heute noch dran, als es hieß, unser Klinikleiter geht weg, da kriegte ich jemand vom Landschaftsverband zu fassen und sagte: „Schickt uns bitte einen Sozialpsychiater.“ Lacht. Das wünschen die Angehörigen sich, dass das weiter geht, dass das Lebensumfeld so gestaltet ist für diese Menschen, dass sie darin existieren können. Viele haben sich damals bei der Abfassung und Umsetzung der Psychiatrie-Enqete engagiert, u.a. Prof. Caspar Kulenkampff.

Ich: Welches Verständnis gab es damals in der Öffentlichkeit für psychische Erkrankungen?

Schütt: Also Verständnis gab es sehr wenig. Ich kann mich gut an Zeiten erinnern, wo wir versucht haben, uns durch die Medien mitzuteilen. Es gab ganz gute Sachen, aber es gab auch Dinge, die total danebengelaufen sind. Dort einen Fuß reinzukriegen, dass das irgendwann mal eine wirklich grundlegende Wende gibt, das finde ich, ist das Schwierigste. Was wir eigentlich als Aufgabe hätten, weil die Journalisten wechseln, und Sie kriegen gar nicht alle zu fassen. Dann stehen die unter dem Druck, was Reißerisches zu machen. Und dann bietet sich natürlich das an, was wahnsinnig auffällt: nämlich eine Gewalttat oder was Abnormes. Das wird dann immer auf die Seite der Psychiatrie geschoben. In Wirklichkeit ist es aber so, dass die meisten psychisch Kranken still vor sich hin leiden.

Ich: Wie waren denn so die Bedingungen in den Anfangszeiten der Angehörigenarbeit?

Schütt: Wir haben unter uns Angehörigen Listen rumgegeben. Mit Telefonnummern usw. Wir haben damals sozusagen unseren eigenen Beratungsdienst aufgemacht. Und manche Gespräche sind Stunden gewesen. Das haben wir dann alles privat bezahlt. Und später, als der Verein dann finanziell besser gestellt war, konnten wir auch mal Telefongebühren bekommen, Portogebühren und solche Dinge.

Ich: Was gab es damals an Hilfe und Unterstützung für die Angehörigen?

Schütt: Da gab es noch nichts. Da mussten wir Angehörigen uns untereinander helfen.

Ich: Gab es denn schon Ansätze von irgendeiner Art Reformpsychiatrie?

Schütt: Ja. Das würde ich schon sagen. Wir hatten schon Vorstellungen. Gütersloh war ja für uns durch Dörner immer ein Vorbild, und es gab auch in Österreich schon einige Entwicklungen. HPE ist eine Angehörigenvereinigung in Österreich, die erst nur die Wiener so richtig vorangetrieben haben.

Damals war ich schon Bundesvorsitzende und wurde zum zehnjährigen Bestehen der Wiener eingeladen. Da wollten die einen Bundesverband gründen und haben es vergessen vor lauter Feiern. Lachen Auf jeden Fall habe ich in meiner Rede auf den zu gründenden Bundesverband abgehoben, und da sagte der Vorsitzende dort: Gut, dass Sie mich daran erinnern. Lachen Dort war auch Prof. Dörner eingeladen. In Wien gab es den Prof. Katschnig. Die hatten auch schon so eine Art Gemeindepsychiatrie entwickelt.

Ich will nicht sagen, dass das jetzt die alleinige Wiege war. Es gab an verschiedenen Brennpunkten Entwicklungen. Und diese wuchsen immer mehr zusammen durch den Dachverband. Der sammelte nun psychosoziale Hilfsvereine, die sich mittlerweile gebildet hatten. Ich denke da an die Frau Lorenz, die ist ja auch immer zu Dachverbands Veranstaltungen gekommen. Da lernte man schon allerlei Menschen kennen. Und immer mehr bildeten sich da auch die Verbindungen für die Angehörigen heraus.

Ich: Und was führte zu Ihrer Entscheidung, dass Sie letztlich gesagt haben: So, jetzt gründe ich den Bundesverband mit?

Schütt: Also, dass ich den mitbegründe, war meine Überzeugung, dass man als einzelne nichts erreichen kann. Es war ja so vielerlei im Argen damals gewesen, das hätte man alleine nie geschafft. Mir war sofort klar, dass man die Angehörigen, die sich schon irgendwo formiert haben, sammeln muss.

Und da sagte ein Psychologe aus Marburg noch, der sich für die Selbsthilfe sehr einsetzte: „Ha, da brauchen Sie zehn Jahre für.“ Das war 1980. Wir haben fünf Jahre gebraucht. Da hatten wir den Bundesverband. Und der hat sich dann ganz gut mit Landesverbänden aufgefüllt, kann man sagen. Wenn ich es heute betrachte: Auch im Osten ist das ganz beachtlich schnell weitergegangen, dass sich Landesverbände gebildet haben. Der Thüringer Landesverband hat schon immer Kontakte gehabt nach dem Westen. Und dadurch ist das bei denen auch sehr schnell gegangen. Da bestehen heute noch ganz enge Fäden. Aber ich finde es überhaupt nach der Wende so, dass gerade, was die psychiatrischen Sachen angeht, sehr schnell eine Verzahnung stattgefunden hat.

Ich: Also nicht so ein Ost-West-Gefälle? Da ist ja die Angehörigenbewegung der Politik schon einen Schritt voraus.

Schütt: lacht. Vielleicht ist es so. Unter diesem Aspekt habe ich es mir noch gar nicht so beguckt.

Ich: Wie sehen Sie den Bundesverband heute?

Schütt: Ich glaube, dass der Bundesverband jetzt mit Herrn Speidel als Vorsitzenden an der Spitze auf einem guten Weg ist. Ich denke, dass das Gewicht, das der Bundesverband mittlerweile hat, doch zu manchem geführt hat. Wenn ich nur an die neuen Gesetzgebungen denke, so ist doch einiges eingeflossen, was Profis und Angehörige gemeinsam erarbeitet und durchgesetzt haben und durchsetzen wollten.

Der Bundesverband hat noch viel zu tun. Z.B. ist es auf Station immer noch oft so, dass die Angehörigen nicht angehört werden. Diese Klagen kommen auch heute noch. Ich will jetzt nicht gerade sagen, dass das in der Klinik gang und gäbe ist, aber es kommt immer wieder vor. Man muss auch wissen, dass manche Ärzte total frustriert sind, weil das Personal knapp ist in den Kliniken. Die sind schon sehr belastet. Und trotzdem sollten sie wahrnehmen, dass Angehörige nicht nur stören, sondern auch helfen können.

Ich: Hat sich denn da was geändert bei dem Verständnis für psychische Erkrankungen in der Öffentlichkeit von den Anfängen der Angehörigenbewegung bis heute?

Schütt: Bis heute wenig, möchte ich sagen. Es ist so: Wenn man den Mut hat, einzelne Leute anzusprechen, sie aufzuklären und etwas Bestimmtes von ihnen erwartet, wie das Arbeitstraining, das wir in Bonn machen, wo ich also wirklich die Bonner Firmen als Nachbarn angesprochen und auch Verständnis gefunden habe. Und die Firmenchefs immer
wieder sagten: „Ja, aber ich kann das meinen Mitarbeitern nicht zumuten.“ Dann war ich bei den Mitarbeitern schon gewesen und hab gesagt: „Ja, aber der und jener Mitarbeiter, der würde sich das zutrauen.“ „Ja, dann können wir das machen.“ Solche Dinge, also, dass man einfach den Mitmenschen anspricht, dann öffnet er sich auch.

Wir haben hier den Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie. Der deckt in Bonn alles ab, was man sich wünschen kann bis auf ganz geringe Lücken. Wir haben auch einen Koordinationskreis in Bonn, wo alles, was in der Gemeindepsychiatrie tätig ist, an einem Tisch sitzt. Und wo man sich abspricht, auch mit dem Sozialamt, und wo man die ausufernde Bürokratie auf ein nötiges Maß beschränken kann.

Ich: Wie wichtig ist für Sie der Aspekt der Selbsthilfe bei der Angehörigenarbeit?

Schütt: Er ist insofern wichtig, dass wir uns gegenseitig stützen. Das spart auch manche Wege, weil die Informationen schon in den Gruppen weitergegeben werden. Und Selbsthilfe bedeutet ja, dass ich mir selbst eher helfen kann, d.h. dass ich lerne, mich abzugrenzen und eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, wiederzuentdecken, wenn ich sie denn eine Zeitlang verdrängt habe, andererseits aber auch wieder den Mut finde, wenn es denn die Situation ergibt, zu sagen: „Nein. Auch wenn ein bestimmter Trend in die Richtung geht, für mich sieht es jetzt so am Besten aus.“ Dass ich mich auch traue, das zu vertreten.

Denn ein Rezept, sagen wir mal, für Angehörigenverhalten oder für den Umgang mit dem Betroffenen gibt es ja wohl nicht. Da gibt es zwar bestimmte Kriterien, aber kein direktes Rezept. Ich denke, diese Reibung mit dem Für und Wider in bestimmten Situationen, die findet ja in Angehörigengruppen statt. Und das hilft einem ja auch sehr viel weiter.

Extreme Entwicklungen, die der Angehörigenverband hätte nehmen können, haben sich dabei, sag ich mal, abgeschliffen in dieser Diskussion und der ganzen Entwicklung. So dass der einzelne Angehörige, der unter Druck steht und dabei manchmal über das Ziel hinausschießt, von anderen aufgefangen wird und die Dinge wieder ins Lot kommen.

Ich: Wie wichtig sind für Sie Angehörigengruppen?

Schütt: Für den einzelnen Angehörigen finde ich es sehr stützend. Weil Sie einfach jemanden im Rücken haben und ganz anders wahrgenommen werden. Es traut sich auch keiner, zu Ihnen unverschämt zu sein, was früher schon stattgefunden hat. Wenn da eine Vereinigung dahinter steht, ist das anders.

Also, ich denke, für neu Hinzugekommene ist es ganz wichtig, dass die sich aussprechen können, dass man ihnen die Zeit auch gibt und zuhören kann. Und ich denke, es gibt dann eine Zeit, wo ein Schritt weitergegangen werden muss. Dass es sich nicht immer im Kreise dreht. Wir sprechen die Angehörigen dann auch an und sagen: „Man kann nicht nur herausnehmen, man sollte auch was reinbringen.“ Und dieses Wechselspiel, denke ich, hält so einen Verein auch am Leben.

Ich: Ich nehme an, auch heute ist die Angehörigenarbeit für Sie nicht wegdenkbar? Was sind Ihrer Meinung nach die vordringlichsten zukünftigen Aufgaben des Bundesverbandes?

Schütt: Ich denke, die Aufgabe ist zu beobachten, welche Bedürfnisse kommen aus den verschiedenen Landesverbänden und Gruppen, und wo führt das hin. Wohin transportiert der Bundesverband das? Und es ist vor allem immer notwendig, dass man die Entwicklungen in der Psychiatrie und in der Politik beobachtet.

Ich glaube, dass da Seminare, Bundestagungen, usw. sehr hilfreich sind. Ich erlebe es ja immer wieder, dass viele neue Ärzte z.B. oder auch jüngere Politiker wenig wissen.

Und mein Reden und meine Bedenken gehen auch immer dahin, dass das, was wir errungen haben, bewahrt werden muss, und dass man das auch in die andere Generation weiter- und hineintransportieren muss. Das müssen sowohl die Sozialpsychiater als auch die Angehörigen dann bewältigen.

Ich: Was wünschen Sie sich für seelisch kranke Menschen?

Schütt: Ich bringe Ihnen ein Beispiel: Ein Glücksfall wäre so eine Einrichtung, wo eine Mutter ihren Sohn untergebracht hat bei Erlangen. Das ist eine anthroposophische Sache, wo es anfangs auch sehr schwierig war, wo die Betreuer meinten, das schaffen sie nicht. Der hat aber so gut Fuß gefasst, das ist so ein gutes Verhältnis geworden. Er singt im Chor und er macht beim literarischen Zirkel mit und kommt im Urlaub und fährt auch gerne wieder dahin und sagt: „Ich fahr jetzt wieder nach Hause.“ Und das finde ich was Tolles.

Es ist eine sehr gut geführte Sache, die auch sehr auf musische Stützen baut. Und die sind nicht irgendwie orthodox da. Das kann der gar nicht so mitmachen, und da legen die auch gar keinen Wert drauf. Die Grundhaltung ist das halt da.

Und ich wünsche mir auch immer, dass es so, wie z.B. in Hessen, bestimmte Wohnformen gibt, Einfamilienhäuser, wo vielleicht zwei, drei Leute drin wohnen könnten. Wo jeder seine Terrasse oder seinen Balkon hat, Grünanlagen drum rum sind, Gemeinschaftsräume sind, die man nutzen kann, wenn man möchte. Wo man sich aber auch zurückziehen und selbständig leben kann. Das gibt es ja auch für alte Menschen, wo jedes Angebot der Hilfe da ist, aber nicht genutzt werden muss. Und das würde ich mir für seelisch kranke Menschen wünschen. In München gibt es ja ein Projekt, da hat eine Angehörige, die Vermögen hat, einen ganzen Häuserkomplex „Wohnen mit Behinderten“ erstellt, auch für psychisch Behinderte. Wer das kann. lacht Aber so viel Geld hab ich nicht.

Ich: Was hat Ihr Engagement in der Angehörigenbewegung bewirkt? Wem hat es geholfen? Natürlich eine etwas schwierige Frage.

Schütt: Tja. Wem hat es geholfen? Also, ich denke, es hat uns allen geholfen. Nicht nur mein Engagement, sondern überhaupt das Engagement der Leute, die mitgearbeitet haben. Das war schon ein Glücksfall, dass das so aufeinandergetroffen ist.

Dass das Engagement etwas gebracht hat, sagt sogar meine Tochter. Die sagt zu mir: „Ich habe ja nicht viel geleistet.“ Und da sag ich: „Und was siehst du positiv?“ „Ja. Das einzige, dass du dich so eingesetzt hast.“ Dabei ist es doch ein Kampf, mit dieser Krankheit zu leben und fertig zu werden. Und immer wieder von vorne anzufangen. Doch immer wieder morgens aufzustehen.

Ich: Was würden Sie aus heutiger Sicht anders machen? Oder würden Sie es noch einmal genau so machen?

Schütt: Ja. Ich glaube, das liegt in meinem ganzen Wesen und Temperament. Mein Name heißt Hildegunt: zwei Mal Kampf. Ich habe das immer als eine Aufgabe gesehen, als die Tochter krank wurde. Als ein Problem und eine Aufgabe, die es zu bewältigen gab. Irgendwie.

Ich: Also würden Sie es noch mal machen?

Schütt: Ja. Würde ich.

Ich betrachte es als eine Art Gnade. Dass ich daran nicht zerbreche und darüber hinaus anderen vielleicht noch helfen kann. Auch wenn in meiner Familie jetzt Schwierigkeiten auftreten, ich werde nicht kopflos, sondern ich überlege: „Wie kann ich helfen?“ Und ich freue mich, wenn ich immer wieder die Kraft finde. Das hält mich auch wach, denk ich mal.

Ich sag Ihnen ja, das ist das, was ich an Religiosität in mir empfinde. Mir sagen manchmal die Leute: „Sie sind viel zu bescheiden.“ Ich sag: „Ich brauch ja auch nicht viel.“ Und ich habe es auch nicht nötig, dass ich mir irgendwo was umhänge. Aber wo ich auftreten muss, da trete ich dann auch auf.

Eine Befragung von Zeitzeugen zu den Anfängen der Angehörigenbewegung

Sabine Hummitzsch (2002)

Diplomarbeit im Studiengang Sozialwesen an der Fachhochschule Wiesbaden

3.1 Interview Fridburg Lorenz, Heppenheim, S. 15-37

3.1.1 Vorstellung der Person

Fridburg Lorenz wurde am 11. August 1923 in Berlin geboren. Sie arbeitete im Laufe ihres ereignisreichen Lebens in verschiedenen Berufen. So war sie Kinderkrankenschwester,
Kindergärtnerin und -hortnerin, wie es früher hieß, Säuglingspflegerin und später Berufsberaterin. Sie heiratete ihren Mann, einen Maschinenbau-Ingenieur, und bekam mit ihm vier Söhne. Ihr jüngster Sohn erkrankte mit Ende zwanzig an einer Psychose. Etwa zur selben Zeit starb ihr Mann.

Die Mutter von Fridburg Lorenz, die zu den ersten Frauen gehörte, die zum Studium zugelassen wurden (1910), und später bei Max Weber Soziologie studierte, hat Fridburg Lorenz Leben stark geprägt. Die Mutter, eine ungewöhnliche Frau, die in den Wirren des Ersten und Zweiten Weltkrieges ihren Weg suchte, zog, weitgehend alleinerziehend, drei Kinder groß. Fridburg Lorenz Mutter war seelisch krank. Sie bekam im Laufe ihres Lebens verschiedene Diagnosen und starb 1965 in der Psychiatrie in Christofsbad. So ist Fridburg Lorenz im doppelten Sinne Angehörige.

Fridburg Lorenz‘ Vater war Professor, der während der Nazizeit in die Türkei emigrierte, nach dem Krieg zurückkehrte und u.a. der Berater von Bundeskanzler Ludwig Erhard war. Zum Vater hatte Fridburg Lorenz ein distanziertes Verhältnis. Der Bruder starb; zur heute 82jährigen Schwester verbindet sie eine herzliche Beziehung.

Fridburg Lorenz ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit mit preußischer Grundhaltung und einer energetischen Ausstrahlung. Wärme und Humor prägen ihre Erscheinung. Nach einer wechselhaften Kindheit – so erlebte sie in Spanien den Bürgerkrieg – riss sie schon mit 15 Jahren mit dem Fahrrad von zu Hause aus. Nach einer Reihe von abenteuerlichen Jahren ließ sich die gebürtige Berlinerin schließlich im vertrauten Heppenheim nieder, wo sie schon als Kind eine Weile – wenn auch widerwillig – das berühmte Reformprojekt, die Odenwaldschule, besuchte.

Fridburg Lorenz ist seit Jahrzehnten eine bekannte Erscheinung in Heppenheim. Die heute 78jährige blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Bereits 1969 ging sie als Laienhelferin in die damals noch unzugängliche Psychiatrie, zusammen mit anderen ehrenamtlichen Helferinnen. Ihr Ziel war es, isolierten Menschen in Psychiatrien wieder den Kontakt nach „draussen“ zu ermöglichen. Anfang der 70er Jahre gründete sie den Verein „Hilfe für psychisch Kranke e.V.“ in der Psychiatrie. Fridburg Lorenz wurde Vorsitzende und Motor des Vereins.

Doch ihr Blick reichte weiter: So störten sie die starren Strukturen der damaligen Psychiatrie, die der Verwirklichung ihrer Ideen entgegenstanden. Ein zweites Standbein außerhalb der Psychiatrie war in der Diskussion.

1979 gründete sie den heute noch bestehenden allgemeinnützigen Verein „Helseekon“. Helseekon steht für „Helfen in seelischen Konflikten“. Aus der Not machte sie eine Tugend und war „mangels Masse“ zehn Jahre Allein-Vorstand des Vereins. Im Klub Helseekon trafen und treffen sich heute noch engagierte Bürger Heppenheims, Angehörige und psychisch kranke Menschen.

Fridburg Lorenz besuchte regelmäßig seit seiner Gründung die Veranstaltungen des „Dachverbandes Psychosozialer Hilfsvereinigungen“. Turn fühlte sie sich verbunden, weniger
dem später gegründeten Bundesverband (BApK), dem sie auch nicht beitrat. Sie arbeitete u.a. mit Angehörigengruppen. Sie war Mitglied der PSAG in Heppenheim und leitete dort drei Jahre die Untergruppe „Gemeindepsychiatrie“ mit. Für ihren Einsatz wurde Fridburg Lorenz mit dem Landesehrenbrief ausgezeichnet.

Heute noch ist sie Ehrenvorsitzende von Helseekon und Ansprechpartnerin für viele Menschen.Durch eine chronische Augenkrankheit hat sie sich zurückziehen müssen. Die engagierte Kämpferin hofft, dass ihr betroffener Sohn wieder gesund wird.

Ich besuchte Fridburg Lorenz am 12. Januar in ihrem Haus in Heppenheim. Es war das erste in der Reihe meiner Interviews. Es dauerte fünf ausgefüllte Stunden. Schon von Kindesbeinen an war sie  Angehörige einer seelisch kranken Mutter. Es würde leider den Rahmen dieser Diplomarbeit sprengen, anhand des Interviews zu verfolgen, wie eine Tochter als Angehörige einer kranken Mutter in den Wirren der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges heranwächst. Wie die Tochter die psychische Krankheit ihrer Mutter erlebte und welche Erfahrungen sie mit der „Anstalt“ Psychiatrie und den dort Tätigen sammelte. In den folgenden Auszügen des Interviews wird dennoch – mehr als in den anderen Interviews – der Schwerpunkt auf Fridburg Lorenz Familiengeschichte liegen, um wenigstens einen kleinen Einblick in die damalige Zeit zu gewähren und stellvertretend für viele Angehörige das Leid in der Zeit vor der Angehörigenbewegung zu schildern.

Fridburg Lorenz und ich besuchten im Anschluss an das Interview den Helseekon-Klub im Zentrum des kleinen Städtchens. Ein gemütliches Domizil, das ein beredtes Zeugnis von
Fridburg Lorenz Wirken ablegt.

Fridburg Lorenz versteht sich nicht als „reine“ Angehörigenvertreterin, sondern allgemein als einen sozialen, aktiven Menschen. Die Angehörigenarbeit sieht sie als eine Facette ihrer Arbeit. Dennoch gehört sie genau wie Lotte Mucha oder Hildegunt Schütt zum Urgestein der Angehörigenbewegung, die sich ja in den Anfangszeiten gerade durch ihre Vielfältigkeit und Lebendigkeit und weniger durch Homogenität auszeichnete.

Fridburg Lorenz steht für die vielen ehrenamtlichen Laienhelferinnen aus der Gründerzeit der Angehörigenbewegung. Sie krempelte die Ärmel hoch, stürzte sich in die Arbeit und legte los. Ihr Handeln folgte den Notwendigkeiten in einer Zeit, in der Veränderung in der Luft lag. Treffend sagt sie dazu: „Für mich war es einfach ein freies Feld. Es gibt doch diese Frau Holle, glaub ich. Die kommen da vorbei an dem Backofen, da wo das Brot drin ist, und das schreit immer: Holt mich raus. So war das“ (vgl. S. 32).

3.1.2 Auszüge des Interviews

Lorenz: Ich bin ein religiöser Mensch. Ich wollte in jungen Jahren auch mal in ein Kloster eintreten. Sie haben mich nicht genommen, weil ich nicht ehelich im kirchlichen Sinn geboren war und ich so eine aparte Mutter hatte.

Ich hatte eben revolutionäre Eltern. Meine Mutter war revolutionär, weil sie von einem verheirateten Mann drei Kinder hatte. Einmal kann das einem ja passieren, sie hatte zwischendurch eine Fehlgeburt, also vier Kinder. Das kann einem nicht passieren, wenn man nicht will.

Und mein Vater war Emigrant. Der hatte mit Theodor Heuss zusammen an der Hochschule für Politik in Berlin studiert als junger Mann, war Sohn eines Generals, der war ganz oben angesiedelt, das muss man dazu sagen. Und mein Vater hatte sich von vornherein gegen Hitler ausgesprochen. Es gab ja Leute, die meinten, ja wenn der sagt, er weiß, wo’s langgeht, dann lasst den Kerl doch machen. Der wird in ein, zwei Jahren ja sehen, wo er damit hinkommt. Mein Vater hat ihn immer als gefährlich empfunden.

Meine Eltern haben dann noch geheiratet. Dann hat die Ehe nicht gehalten. Als ich neun Jahre alt war, hatten wir die Gestapo im Haus, und mein Vater ist dann geflüchtet. Er hat dann noch seine Verbindlichkeiten lösen können, denn mein Vater war teilweise am Ministerium beschäftigt und bei der Industrie in so einer Schlüsselfunktion. Und da hatte er einen Freund in der Schweiz, der hat gesagt: „Rüstow, wenn es zu schlimm für Dich wird, ich kann Dir ne Professur in Istanbul beschaffen.“ Und mein Vater hat gesagt: „Ich bin ja kein Jude, das wird nicht nötig sein.“

Und dann, nachdem die Gestapo da gewesen war, ist er in die Schweiz gegangen und hat gesagt, jetzt bin ich da. Das war 1934. Die standen ja alle auf so Listen. Er ging dann nach Instanbul und blieb dort fünfzehn Jahre. Da hat er einmal sein Hauptwerk geschrieben, „Ortsbestimmung der Gegenwart“, drei Bände, und dann hat er sich der Sozialen Marktwirtschaft gewidmet. Er ist einer der Urheber der Sozialen Marktwirtschaft.

Mein Vater kam mit kompletten Plänen der Sozialen Marktwirtschaft zurück und bekam dann einen Lehrstuhl in Heidelberg – mit 63 Jahren wurde er noch ordentlicher Professor – und wurde Berater von Ludwig Erhard. Er ist einer der wenigen Menschen, die zu Lebzeiten im Brockhaus waren. Es war so: Zuerst durfte man nicht über seinen Vater sprechen, man musste immer gucken, hört einer zu. Als Kind war das furchtbar für mich. Und später musste man einen Termin haben, weil mein Vater dauernd besetzt war.

Mein Vater hatte ein Steckenpferd: Er war dreimal verheiratet, und von den drei Frauen hat er zwei in Psychoanalyse geschickt. Eine davon war meine Mutter. Die war bei der Karin Horney, eine ganz bekannte Analytikerin, na ja, das hat uns einen Zuwachs an Freud gebracht. Lachen Das klingt sicher zynisch, was ich damit sagen will: Mein Vater hätte selber gehen müssen. Man soll nicht seine Frau schicken, wenn man so davon überzeugt ist. Das muss man schon sagen. Meinem Vater fehlte nichts, also typisch Mann. Obwohl er so modern war, nicht? Also wirklich, moderner ging’s kaum; aber es hat ihn dann wieder mal eingeholt.

Also, das war immer sehr schwierig bei meinem Vater. Und wenn man ihm was erzählte, und er wollte einen nicht verletzen, aber es wurde ihm zuviel, weil er irgendwas bedachte, dann fing er an, irgendeinen Witz zu erzählen. Lachen Und dann wusste man, es war ein Zeichen, dass man zuviel war.

Und schon, als ich ein Kind war, da hatten wir eine Zeitlang eine Kinderschwester, vier, fünf Jahre hatten wir eine Kinderschwester. Und die sagte immer zu mir: „Fridburg. Du kannst den Vater nur stören, wenn er nicht denkt.“ Tja. Und da hab ich oft dagestanden und gedacht: „Der denkt ja immer.“ Herzliches Lachen Ja. Ich sollte ihn nicht stören beim Denken. Und so war das Verhältnis ein bisschen.

Und deswegen. Da war ein gewaltiger Abstand. Gewaltig.

Und jedenfalls, meine Mutter war eine der ersten Frauen, die studiert hatten. Ab 1910 durften Frauen studieren. Und die durften im Nebenzimmer sitzen und hören, was der Gelehrte da sagte, nicht mit den männlichen Studenten zusammen, sie hätten ja die ernsthaft studierenden jungen Männer ablenken können durch ihre Geschlechtlichkeit. Amüsiertes Lachen Meine Mutter hat auch verschiedene Sachen studiert. Die hatte dann die Lehrberechtigung. Also, sie hat einmal Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch studiert. Und damit bekam sie auch die Lehrberechtigung für das Fach Deutsch. Und in Heidelberg studierte sie bei Max Weber Soziologie.

Da war aber auch schon der Krieg ausgebrochen. Meine Mutter war eine gefeierte Debattenrednerin und eine imposante Frau, eine imposante Gestalt. Sie hat sich als Pazifistin zu
erkennen gegeben. Sie war gegen jede Form von Gewalt, also ein Mensch, der so viel Gewalt erlitten hat. Und das hatte der Großherzog von Baden gehört, und da ist sie als Landesverräterin des Landes verwiesen worden. Sie ging dann nach Berlin, da kam sie gerade in den Matrosenaufstand, der Kaiser Wilhelm II. absetzte, da hat sie Gewehre verteilt. Das habe ich auch nur so beiläufig mal so gehört. Ich habe nie komplett gehört, was meine Eltern so gemacht haben.

Das war eine tolle Frau. Die ist in der Psychiatrie gestorben. Muss man dazu sagen. Und diese tolle Frau, die hat dann eben meinen Vater kennengelernt. Und diese Frau, diese Pazifistin, die Vorträge halten konnte, die fließend sprach, der haben sie alles zugetraut, nur nicht, dass sie mit Kindern fertig wird.

Eine sehr seltsame Entwicklung. Also für uns war Freud durchaus ein Begriff. Ich wusste genau, im Regal, in hellblaues Leinen eingebundene Bücher, das war Freud. Und Freud war ein schöner Name, aber der Freud war so ein Ekel, immer, wenn irgendwas fürchterlich war, Lachen dann hatte das der Freud ausgebrütet.

Wir waren drei Kinder, meine ältere Schwester, die hatte mit drei Jahren Hirnhautentzündung. Es hieß immer: „Fridburg, sei nicht so wild, Du weißt, Maria war krank.“ Ja, die war also krank. Hinter mir kam ein Bruder, der wahnsinnig klug war und in Amerika mit 26 Jahren Professor wurde. Inzwischen ist er gestorben. Und meine ältere Schwester, nachdem wir uns früher spinnefeind waren, sind wir jetzt richtig Freunde. Aber das wird auch Zeit. Sie ist immerhin 82 jetzt.

Meine Eltern – beide – waren tolle Theoretiker. In der Praxis hat’s an vielem gefehlt. Theoretisch war alles da.

Dann ist meine Mutter nach Madrid gegangen, also Sprachen waren kein Problem für sie, wir haben es als Kinder gezählt, sie konnte zwölf Sprachen, also mindestens, in denen lesen, wenn nicht schreiben. Da hat sie also studiert, und da hab ich sie angefleht, sie sollte mich mitnehmen. Meine Mutter ist 1892 geboren und ich bin 1923 geboren. Und da hat sie mich mit nach Spanien genommen. Gegen den Willen meines Vaters, aber der saß ja in Istanbul.

Da hab ich da also ganz allein gesessen, habe mit ihr z.B. ihre Doktorarbeit gelesen. Sie hatte ein Manuskript von einem gefunden, der hinter Columbus nach Amerika gefahren war. Ich habe davon auf Altspanisch vorgelesen, geradebrecht, und sie konnte das dann übersetzen. Im Übrigen bin ich viel in Museen gewesen und war sehr viel alleine. Das war 1935. In Spanien brach dann die Spanische Revolution aus. Und meine Mutter, die sowieso immer so ängstlich war, die ist dann immer so in Deckung an den Häusern lang geschlichen und ich hinter ihr her. Ich hab das nie verstanden.

Und dann, das wäre wohl das Natürlichste in der Welt, wir hätten uns in der Botschaft melden sollen. Aber meine Mutter ist nicht auf den naheliegendsten Gedanken gekommen. Als wir uns dann gemeldet haben, erfuhren wir, dass die da Notaufnahmelager hatten. Drei Leute teilten sich da jeweils zwei Matratzen. Da kamen wir also hin und durften bleiben, bis wir einen Abtransport hatten. Und da teilte es sich sofort in Bayern und Preußen. So klein, wie ich war mit zwölf Jahren, dachte ich, das darf’s doch nicht geben. Und dann kamen wir zurück mit einem Schiff über Valencia, das hatte gerade den Krieg hinter sich. Und dann kamen wir in Genua an und passierten die Grenze. Da kamen sofort Leute durch, die Juden aussortierten. Wissen Sie, das war eine Kinderzeit, die ist keine Kinderzeit.

Anschließend ist meine Mutter mit uns Kindern nach Berlin gegangen. Sie hatte inzwischen ihr Staatsexamen gemacht. Dann wollte sie noch weiterarbeiten. Und drei Kinder, die sie gar nicht gewöhnt war, meine beiden Geschwister wären lieber auf der Odenwaldschule geblieben, das war also fürchterlich.

Sie hat dann ihre seelische Gesundheit, wann immer sie die gehabt hat, verloren. Schon in Madrid, wie sie wusste, es ist Bürgerkrieg, zeigte sie so eine übergroße Ängstlichkeit, für eine gescheite, überaus gescheite Frau, hatte sie ein enormes Angstpotential. Die Krankheit, von der ich glaube, dass meine Mutter sie hatte, die ist erst 1970, glaube ich, urkundlich festgelegt worden, die heißt Borderline. Man sagt halt so, wenn man gar keine Diagnose weiß, dann ist es bestimmt Borderline. Lachen Aber ich denke schon, dass es das war.

Sie wollen wissen, wie wir uns damals über Wasser gehalten haben? Ich habe mir verschiedentlich das Leben nehmen wollen. Sehr leise Also, einmal in Spanien, in Madrid, gehungert, weil meine Mutter nicht einteilen konnte. In Berlin, da war ich vierzehn, habe ich gesagt: „Mutter, ich werde jetzt den Haushalt führen. Du musst mir Wirtschaftsgeld geben.“ Das war doch das Mindeste, was man erwarten konnte, Wirtschaftsgeld auszusetzen. Damit rechnest Du. Ich war so verzweifelt. Ich hab mich auf den Boden geworfen und geheult und gebrüllt.

Meine Schwester, die hat das in sich reingeschluckt. Ich war nicht zu übersehen. Ich hatte auch die roten Haare meiner Mutter, feuerrot, war auffallend. Ja, das war die Aktivität der Verzweiflung. Und dann hieß es so ungefähr: „Rettet die Kinder!“ Da griffen die Großeltern ein. Das war z.B. so: In der Odenwaldschule ging man in den Ferien nach Hause, nicht? Aber wir blieben übrig. Wussten nicht wohin. Und da haben sie eines Tages die Großeltern gebeten, sie möchten da doch etwas unternehmen. Der Großvater, das war der General. Die waren auch sehr rührend. Und es gab da zwei sehr aktive Tanten, die eine mütterlicherseits, die andere väterlicherseits. Die hatten auch beide soziale Berufe, das hatten sie zu ihrer Zeit schon durchgesetzt. Damals war es noch so üblich, dass bei mehreren Kindern eine Tochter auserkoren wurde, zu Hause zu bleiben.

Und nach dem Krieg hat meine Mutter dann nie mehr richtig standgehalten. Sie hatte viele Freunde. Sie hatte auch einen Freund, der war damals Schulrat hier in Hessen, der hat ihr noch eine Stelle beschafft als Studienrätin, und das hat sie noch ein halbes oder ein Jahr gemacht. Dann ging es nicht mehr, aus welchen Gründen auch immer.

Ich war da schon erwachsen. Vor allem hatte ich eine Zeit, wo ich sehr nahe räumlich bei meiner Mutter war, und wo ich sie einfach nicht sehen konnte. Ich wusste, wir beide zusammen, wir würden zugrunde gehen. Ich musste erst mal selber Stand finden. Unter meinen Füßen. Dazu kam noch, dass ich selbstverständlich Abitur machen sollte und ich mich immer dagegen gewehrt habe. Schließlich bin ich mit fünfzehn durchgebrannt mit einem Fahrrad und meine eigenen Wege gegangen. Mit sechzehn hab ich mir nichts mehr sagen lassen.

Ich: Klar, wenn sie mit vierzehn schon Wirtschaftsgeld verlangt haben, wie sollen Sie sich da mit sechzehn noch was sagen lassen?

Lorenz: Lachen Ja.

In Berlin 1946, also ein paar Monate nach dem Krieg, da war die erste Tagung für Psychiater, die es gegeben hat. Und damals hatte ich noch meine Schwesterntracht. Ich hab mich da mit Häubchen und allem reingeworfen, weil ich dachte, so werde ich am ehesten als Fachkraft zugelassen. Und bin auch reingekommen. Was mich da interessierte, war, dass das Landeskrankenhaus in Berlin-Wittenau besichtigt werden würde. Und da bin ich also mitgegangen, na klar, wollt ich ja, und bin dem Oberarzt immer auf den Füßen gewesen, immer hintendran. Ja, das werde ich auch nie vergessen, da machte er eine Tür auf, da lag ein Mensch in Krämpfen und hatte so ein Gummikissen im Mund. Der hatte einen Elektroschock. Und der Oberarzt, der hat dann gleich die Tür wieder zugemacht, das wollt er ja nicht zeigen.

Aber ich wusste soviel, dass war für meine Mutter nichts, ein Elektroschock, nein. Und dann kamen wir in die geriatrische Abteilung, und damals gab es Torfbetten, das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Das war also ein Spannbettuch, am Rahmen über einer kleinen Torfgrube, so dass die Exkremente also Urin usw. naja. Wie gesagt, alles, was ich so erinnere, ist relativ, das wissen Sie. Meine Erinnerung ist, dass die alten Leute da in diesen Torf gegangen waren und sich damit verschmierten. Die saßen da, also das kam mir vor wie Dantes Vorhölle, und da dachte ich, ach nee, auch da gibst du deine Mutter nicht hin.

Und dann habe ich den Oberarzt, der mich nun ein bisschen kannte, weil ich immer so mitgegangen war, gefragt in einem Moment, wo ich ihn alleine hatte: „Kann man denn“, und das war meine Frage schlechthin, „wirklich unterscheiden, was krank und was gesund ist?“ Und da hat er was gesagt, das hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Ich weiß gar nicht, wer er war, was das für ein Mann war, da hat er gesagt: „Wissen Sie, solange man nicht genau weiß, was gesund ist, kann man auch nicht sagen, was krank ist.“ Da habe ich gedacht, ja, das ist es. Also, das hat sich in vieler Weise für mich gelohnt.

Nach der Währungsreform 1949 kam meine Mutter in ein Altersheim. Da war sie 57. Damals arbeitete ich in dieser katholischen Klinik, die Schwester Oberin ließ mich dann eines Tages kommen. Da war ein Polizist, und der las mir so eine Art Steckbrief vor: „Der Rüstow wird ein Wandertrieb nachgesagt. Sie ist aus dem Altersheim entwichen, keiner weiß wohin.“ Und da ist sie steckbrieflich gesucht worden.

Aber ich wusste damals schon, dass meine Mutter zu ihrer Schwester nach Berlin gegangen war. Das hatte man mir irgendwie gesagt. Aber das waren immer wieder so Sachen, wo man so eiserne Klammern ums Herz gelegt bekam. Aber bei meiner Mutter war immer alles unüblich. Ich habe mit ihr nie über ihre eigene Krankheit sprechen können oder was immer das gewesen ist, auch nicht über ihre Psychoanalyse. Gar nicht. Ich hab’s nicht gewagt. Ich hab immer gedacht: „Wer bin ich denn, dass ich berechtigt bin?“ Das war einfach meine Mutter als Person, die war doch etwas, was ich achtete, und sich da so drüber zu stellen und zu sagen: „Pack mal aus, du spinnst ja wohl.“ Nein!

Aber was hätte ich als Kind drum gegeben, diese Art von Leben loszuwerden. Ich wollte so gerne normal sein. Einfach nur schlicht sein. Die gleiche Schule besuchen, die gleichen Eltern haben, den gleichen Wohnort, ganz normal und unauffällig.

Ich: Haben Sie sich früher geschämt für ihre Mutter?

Lorenz: Ja, für alles hab ich mich geschämt. Ich hab mich furchtbar geschämt.

Das, wo ich so gelitten habe und was ich so unbedingt loswerden wollte, empfinde ich heute als Reichtum. Ganz bestimmt. Das ist einfach der Seins-Grund. Leid, das man durchmacht, bewältigt oder sich damit arrangiert, das ist ein Reichtum. Und wahrscheinlich würden wir ohne das nichts werden. Und ich habe dadurch mehr Sensibilität bekommen. Ja, dass diese Armut im Grunde genommen auch ein Reichtum war, dazu gehörten viele durchlittene Stunden. Viel Wagemut. Das muss man schon sagen.

Das ist es aber: Wenn ein Angehöriger es schafft zu trennen, den Patienten nicht mehr als Stück seiner selbst und seines Versagens und was auch immer damit verbunden ist, zu empfinden, dann ist das sozusagen eine zweite Geburt, eine zweite Abnabelung. Dann kommt auch der Respekt und die Achtung vor der Andersartigkeit des anderen.

Ich: Das war alles schwierig auszuhalten: als Kind und als erwachsene Tochter?

Lorenz: Sozusagen nicht auszuhalten, wirklich nicht. Nein, nein, ich selber habe auch des öfteren Psychoanalyse gemacht. Die letzte Psychoanalyse, wo ich dann wirklich richtig Depressionen hatte, da hab ich erst mal gemerkt, was eine Depression ist.

Da bin ich nachts aufgewacht unter meinen Tränen und bin zwei Stunden später wieder eingeschlafen und wieder mit Tränen aufgewacht. Da wäre ich alleine nicht vorwärts gekommen. Da wusste ich aber inzwischen sehr gut Bescheid, was für eine Art Analytiker ich bräuchte. Und da hatte ich einen Pfarrerssohn, der zehn Jahre als Psychologe am Zentralinstitut gearbeitet hatte. Der hat mir also wirklich außerordentlich geholfen.

Ich: Also die Verbindung zwischen Glauben und Psychoanalyse?

Lorenz: Ja. Ja, Glaube und Theologie mussten dabei sein.

Ich: Und wie ging es mit Ihrer Mutter weiter?

Lorenz: Ja, und dann hab ich gemerkt, dass meine Mutter so herumirrte. Also, als ich sie dann wiedersah, das werde ich auch nie vergessen, das war kurz nach dem Krieg, als noch die Ländergrenzen da waren, wo man noch schwierig vorwärts kam, da sah ich sie dann auf mich zukommen. Da hatte sie einen Absatz verloren, humpelte auf einem Schuh. Kleines Lachen Wissen Sie, jeder andere hätte versucht, den zweiten Absatz auch noch loszuwerden … Und da merkte ich so richtig, dass ich nicht mit ihr fertig wurde, dass ich ihr nicht helfen konnte, und dass sie auch nicht wusste, was mit ihr eigentlich los war.

Da hatte ich eigentlich ziemlich fest gewusst, es stimmt etwas mit ihr nicht. Und das alles durchgemacht zu haben, hat mir eigentlich die nötige Reife und Kenntnisse vermittelt, mit
psychisch Kranken umzugehen.

Damals hatte ich das Gefühl: Man ist gesund, oder man ist krank. Also so, wie ich Masern als Kinderschwester erkannt habe am Ausschlag oder an der Fieberkurve, so hatte ich das Empfinden, ich kann genau sagen: Sie sind gesund, und ich bin krank. Und das war etwas, was ich von der Frau J. damals gelernt habe: Das war die erste, die davon gesprochen hat, dass jeder Mensch kranke und gesunde Anteile hat. Ich glaube, das ist auch weitgehendst jetzt die Ansicht, da wundert man sich nicht mehr drüber, aber damals war das bahnbrechend.

Verwandte meiner Mutter in Berlin, bei denen sie dann schließlich lebte, und die Tante Magda, die war Ärztin, hatten dann vorgeschlagen, meine Mutter sollte in eine Psychiatrie. Sie kam dann in eine private Klinik, also was Besseres: Wir wollten eben wissen, was mit ihr ist.

Meine Mutter hatte eingewilligt. Nee, meine Mutter war ja immer wieder einsichtig. Gerade so Sachen, die theoretisch, gedanklich, intellektuell gewesen waren, da war sie ungeheuer. Da war sie einem überlegen. Also da konnte sie dasitzen und sagen, du meinst das so und so und so. Da war sie dann ein paar Wochen. Und da hieß es, ihre Krankheit wäre „Abnorme Psychopathie“. Also, ich war sehr froh, ich hab gedacht, ich weiß jetzt, was ist. Lachen Bis ich dann mal zu irgendjemand kam und sagte: Das ist „Abnorme Psychopathie.“ Da guckten mich die Leute an, so wie ungefähr, das ist eine Verlegenheitsdiagnose, das ist auch nichts.

Und als sie damals mit dem einen Absatz ankam, und da waren noch andere Dinge, irgendwie hab ich danach nach einer Psychiatrie gesucht. Aber inzwischen war mir klarer geworden, was für Psychiatrien gingen und welche nicht.

Also ich wusste: Meine Mutter sollte nicht in ein Landeskrankenhaus, nicht dorthin, wo sie auf Torfbetten alte Leute untergebracht haben. Gibt’s heute auch nicht mehr und alles so Dinge. Inzwischen war ich Berufsberaterin geworden in Baden-Württemberg. Und meine Vorgesetzte, die selber in der Psychiatrie gewesen war, und ich hatten sehr bald ein Vertrauensverhältnis. Ich konnte ihr erzählten, dass ich mir um meine Mutter Sorgen machte und was für sie suchte. Und da riet sie mir, ich sollte es doch mal mit Christofsbad versuchen. Und das war auch wirklich das Richtige.

Also hab ich meiner Mutter nach Berlin geschrieben, sie sollte sich untersuchen lassen. Und da ist sie freiwillig hin. Da wusste sie schon, dass sie in so ein Sanatorium käme. Das war ein Privatsanatorium, eine ziemlich kleine Klinik, ich weiß nicht, 90 Leute oder so. Und da haben sie ihr erlaubt vom ersten Tag an, „Frau Doktor“, die sie war, die Bücherei im Ort zu benutzen. Die ist also jeden Tag in die Bücherei gegangen und hat sich Bücher angeguckt.

Und da war meine Mutter schon so weit abgebaut, dass sie manchmal die Bücher auch verkehrt rum hielt. Also, man merkte einfach, diese Gebärde, ein Buch in der Hand zu haben, das war ihr vertraut. Das half ihr. Das war 1965, kurz bevor sie starb. Sie hatte da gleich Ausgang. Früher wurde man sonst die ganzen Jahre erst mal auf die geschlossene Station gebracht, bis man wusste, was los war. Und dann bekam sie eine Lungenentzündung und war danach kräftemäßig ziemlich reduziert. In der Klinik hatte man Hemmungen, ihr zu erlauben, in den Ort zu gehen, und hat ihr angeboten, im Hof spazieren zu gehen. Das war noch so ein umgitterter Hof, wo die so im Kreis herumgehen. Da hat meine Mutter, und da erkannte ich sie wieder, gesagt: „Das mache ich nicht. Entweder darf ich raus, oder ich bleibe im Zimmer.“

Ich hatte nach ihrem Tod so das Gefühl, ich habe ihr nicht ganz die Wahrheit gesagt. Ich hatte ihr nicht gesagt, dass das eine Psychiatrie war, ich hatte vielmehr von einer Erholung gesprochen. Das hat mich belastet. Ich hatte sie in der ersten Zeit auch nicht richtig besucht, weil ich dachte, sie lebt sich besser ein, wenn ich nicht komme. Und dann fand man sie tot auf. Das war schlimm. Ja, und als Diagnose bekam sie noch die Diagnose „Schizophrenie“.

Ich war immer der Notnagel in der Familie. Ich bin dann hingegangen und wollte natürlich Genaueres wissen. Und dann hat man mir gesagt, wenn ich’s ganz genau wissen wollte, dann würde sie obduziert werden. Und wissen Sie, das kam mir so vor: Tot ist tot. Auch noch meiner Mutter das antun, nur weil ich wissen wollte. Nein, das hab ich nicht fertiggebracht. Im Gegenteil, ich hab dann noch, als ich sie dann als Tote wiedersah, da hatten sie ihr so ein altes Hemd angezogen mit ner Sicherheitsnadel zusammengehalten, das war für mich schrecklich. Ich hatte ihr ja einen Pullover gestrickt, den sie sehr gerne trug, und da hab ich die Schwestern dann gebeten, dass sie ihr den Pullover anziehen.

Dann war immer noch die Frage, wie sie beerdigt werden sollte. Da fand ich einen sehr netten katholischen Pfarrer. Der hatte sich das Leben meiner Mutter erzählen lassen und sagte: „Ach, das Bemerkenswerte ist ja, dass sie nie aus der Kirche ausgetreten ist.“ Und da konnte sie katholisch beerdigt werden. Dann hab ich ihr noch ein Kreuz gezimmert, selbstgezimmert, und auf ihr Grab gesetzt. Und als die zwanzig Jahre abgelaufen waren, da hat mein Mann drauf bestanden, der war so ein Familienmensch, der sagte: „Dass können wir nicht einfach so aufgeben das Grab. Ich hol sie, ich zimmere eine eigene Kiste.“ Und da hat sie dann noch acht oder neun Jahre bei uns bei den Geräten gestanden. Und als dann meine Tante, die hatte ich inzwischen hergeholt, die Schwester meiner Mutter, als die dann gestorben war, da haben wir sie zusammen hier beerdigt. Das ist das Grab, wo mein Mann auch ist.

Das ist das, was ich als Angehörige erlebt habe.

Pause

Ich: Wie war das für Sie, als Ihr Sohn erkrankte?

Lorenz: Das war noch mal ein schwerer Schlag. Das fiel ja zusammen. Bei meinem Sohn kam das in der Zeit raus, wo mein Mann, sein Vater, sterbenskrank war. Und wie dann der Tod meines Mannes und der Psychiatrieaufenthalt meines Sohnes, wie das zusammen kam, wurde ich selber psychisch krank. Ich bekam Depressionen, die gehobene Form von psychischer Krankheit, nicht?

Mein Mann war auch katholisch und wir wussten beide, dass uns der Glaube sehr wichtig war. Das hat uns auch geholfen, später durchzuhalten. Ich hab natürlich auch meine vier Kinder katholisch erzogen. Aber keiner ist kirchlich, bzw. der eine, der jüngste, der wirklich kirchlich ist, der hat eine religiöse Psychose bekommen.

Das ist der vierte, der letzte. Der war nach dem Abi in einem Altersheim im Zivildienst und hat von da aus Gärtnerei gelernt, ist Gärtnergeselle geworden und wurde dann krank. Ja die Liebe zum Garten, ich hab immer einen Garten gehabt. Wir hatten damals einen Pachtgarten. Ich hatte mich am Morgen mit ihm verabredet und hatte mich schon die ganze Zeit gewundert, was mit ihm los wäre. Da sehe ich ihn noch so kommen mit fliegender Krawatte und gut angezogen, wo er sonst gar nicht so Wert drauf legte, von weitem kam er so und sagte: „Mama, du brauchst nicht mehr zu arbeiten.“ Ich hatte die ganze Zeit drauf gewartet, dass er mir hilft. „Du brauchst nicht mehr zu graben, um 20 Uhr geht die Welt unter.“

Und da dachte ich, um Gottes Willen, jetzt hat‘ s ihn erwischt.

Ich: Wie alt war er da?

Lorenz: 28. Also noch so eine Jugend. Also, das ist so die Verbindung zur Psychiatrie.

Ich: Da sind sie ja doppelt Angehörige?

Lorenz: Ja ja. Das mit meiner Mutter, das hatte ich ja irgendwie zu vergessen versucht. Auch eben, weil ich gefunden habe, dass die so ein Grenzfall war. Und das kam mir erst zuletzt, ja, ich bin doppelt betroffen. Ich war schon dreizehn Jahre in der Psychiatrie tätig, ich war schon raus aus der Psychiatrie selber, war schon bei Helseekon, als mein Sohn erkrankte. In der Angehörigengruppe haben wir das besprochen.

Ich: Es gab schon die von Ihnen initiierte Angehörigengruppe, und da ist Ihr Sohn erkrankt? Wie furchtbar.

Lorenz: C’est la vie.

Ich: Wie ging es Ihrer Familie, als Ihr Sohn erkrankt ist? Wie hat sich das ausgewirkt?

Lorenz: Ich denke, wenn ich mich richtig erinnere, ich habe es als Aufgabe gesehen.

Aber ich hatte ja diese Schwiegertochter, die Mutter meiner zwei Enkel. Und die hat damals gesagt, das werde ich nie vergessen. Das sind solche Sachen, die bleiben einem als Schmerz. Die hat damals gesagt, wie die Diagnose „Psychose“ kam: „Das ist doch mal komisch. Du gehst immer in die Psychiatrie, und nun soll dein Sohn auch eine psychische Krankheit haben.“ Sie wissen, was das für ein doppelter Vorwurf war, nicht?

Ich: Das ist mir nicht klar, wie sie das gemeint hat.

Lorenz: Du hast ja einen Patienten aus ihm gemacht. Und das kann man nun hin- und herwenden. Und da bin ich, ich möchte fast sagen, angefeindet worden. „Wenn es dich nicht gäbe, dann wäre der F. gesund.“

Ich: Von der Quasi-Schwiegertochter?

Lorenz: Ja.

Ich: Hatten Sie als Familie Schwierigkeiten in der Öffentlichkeit, in Ihrem Bekanntenkreis in Heppenheim, als ihr Sohn erkrankt ist? Sind Sie z.B. gemieden worden?

Lorenz: Nein. In der Familie meines Mannes, da gab es allerdings Schwierigkeiten. In der Familie meiner Mutter war es okay. Der Großonkel war ja schon Nervenarzt. Da war die Tante, die Ärztin und sehr aufgeschlossen war. Da war es kein Thema. Aber in der Familie meines Mannes war es schon schwierig. Ich weiß auch nicht, inwieweit mein Mann gefragt wurde von seiner Familie: „Hast du das wirklich gewusst, was da los ist in dieser Familie?“

Ich: Und er hat das auch mitgetragen?

Lorenz: Ja. Er hat immer dazu gestanden. So war mein Mann. In aller Stille wusste er eigentlich immer, was er machen sollte.

Aber ich weiß, dass der Bruder meines Mannes gesagt hat: „Psychische Krankheiten, also aus unserer Familie kommt das nicht.“ Aber das hat mein Mann ausgehalten. Ich hab ihn auch selten erbost gesehen über mich. Irgendwann hatte ich das Gefühl bei verschiedenen Dingen, da war seine Tragkraft einfach überfordert. Er konnte nicht mehr mit dieser Frau, die immerzu so komische Ideen hatte. Aber er hat nie gesagt, sie sind komisch oder mach das nicht.

Damals spielte die Schuldfrage eine große Rolle, heute übrigens auch noch. Man hat immer nach einem Schuldigen, einer Schuld, einer Ursache gesucht. Und das hab ich ja auch lange Zeit geglaubt. Ich glaubte ja, dass man unterscheiden könnte. Wenn man unterscheiden kann, dann kann man auch eine Ursache finden.

Ich: Und was denken Sie heute über Schuld?

Lorenz: Ich denke, dass eine Schuld, die eingesehen wird, wenn denn eine vorhanden ist, eine Chance ist. Ich glaube nicht, dass wir, also das Verhältnis von Gut und Böse in der Welt … Ich sehe immer wieder, dass die Leute glauben, auf irgendeine Weise Böses zu vermeiden. Ich glaube, es gehört einfach dazu. Also wenn Gott allwissend ist und Gott allmächtig ist, das hat mich als Kind immer so auf geregt, ich hab gedacht, wie kann denn das sein, dass Gott nicht die Menschen am Genick packt und sagt: „So sollt Ihr sein, und verdammt noch mal, so seid Ihr dann auch.“ Dass er einem die Freiheit lässt, dass Jesus die Freiheit lässt, an ihn zu glauben. Und heute glaube ich, dass das eine tiefe Weisheit ist. Und so ist es mit Schuld, Sünde und was auch immer diese Begriffe sind. Das ist ein Stück Menschlichkeit.

Ich: Ich glaube, dass die meisten Menschen, wenn sie ein bisschen offen sind, sich mit Schuldfragen auseinandersetzen.

Lorenz: Ja.

Ich: Wie fing denn bei Ihnen die Angehörigenarbeit an?

Lorenz: In den 70er Jahren habe ich alles Mögliche gemacht. Z.B. habe ich auch Vorträge in der Psychiatrie veranstaltet. Da bin ich immer zum Klinikleiter gegangen, das musste ja alles genehmigt werden. Dann wollte ich diese Vorträge moderieren, das fand ich selbstverständlich. Das war ja auch meine Idee gewesen, und ich hatte auch die Einladungen verschickt. Und da sagten die Sozialarbeiter: „Also nein, liebe Frau Lorenz, das geht so wirklich nicht, das muss ne Fachkraft machen.“ Und das hat mich dann so geärgert, dass ich dachte, also gut, die machen die Moderation, und ich besprech’s in der Zeitung.

Ich: Und das war vor 79, bevor Sie den Klub gegründet hatten?

Lorenz: Ja genau, aus dieser Entwicklung heraus kam dann die Klubgründung.

Ja, das war die eine Schwierigkeit: in den Kliniken. Die andere Schwierigkeit war die: Wir kamen also irgendwo mit der Kirche in Konflikt.

Ich bin ein religiöser Mensch. Da war diese aparte Sache, der evangelische Pfarrer, der kam mit den Konfirmanden ungefähr um die gleiche Zeit, als wir auch immer da waren, kam der in die Psychiatrie, um da zu helfen. Und als ich da rausging, um den Klub zu gründen, da hat er sich mit meinem katholischen Pfarrer hier vom Ortsteil verbündet, dass sie mich da bremsen wollten. Sie wollten nämlich ein Gemeindezentrum eröffnen, und dazu brauchten sie Mittel. Und ich höre noch, wie der evangelische Pfarrer voller Entsetzen und Vorwurf sagte: „Also, wenn Sie das für umme machen, also ohne jeden Zuschuss, dann kann ich ja nicht gut nen Zuschuss beantragen, wenn ich so was Ähnliches machen will.“ Und da kam ich mit denen in Konflikt.

Der evangelische Pfarrer hat sich dann noch hinter meinen katholischen Pfarrer geklemmt. Da hatten mich beide einbestellt, und da weiß ich noch, ich war so erregt, ich bin auf gestanden und immer um den Tisch rumgelaufen. Der Pfarrer sagte: „Setzen Sie sich doch wenigstens mal hin!“ Und ich hab gesagt: „Mich regt das so auf, ich kann nicht. Ich lass mir da nicht reinreden. Ich halte es für unbedingt notwendig. Ich find’s gut, ich mache es.“

Ich habe damals das Gefühl, wirklich, es ging an meine Substanz. Weil die Leute, wo ich selbstverständlich gedacht habe, da ist christliche Nächstenliebe, die ließen mich fallen.

Ich: Sie waren ja vorher die ganze Zeit ehrenamtlich im Krankenhaus gewesen?

Lorenz: Ja, genau, ich hatte eigentlich auch vor, es weiter zu sein. Und wissen Sie, ich hatte einen Verein gegründet in der Psychiatrie, der hieß „Hilfe für psychisch Kranke“. Ich war auch die erste, die hier Seniorentanz an der Bergstraße machte. Da war so vieles, das hab ich als Erste gemacht.

Das war auch so typisch: Die Frau J., die war damals Sozialarbeiterin in der Klinik, wusste, da war eine Zusammenkunft für Helfer, es war die erste. Da schickte sie jemand hin, und die konnte nicht. Da hat sie mich ganz kurzfristig gefragt: „Frau Lorenz, würden Sie vielleicht hingehen?“ Ich bin sofort hingegangen. Und da haben wir diesen Dachverband gegründet. Ich erzählte hier bei uns davon, dass die alle kleine Vereine hätten und dass wir in der Klinik auch so etwas gründen wollen. Und in diesem Dachverband hab ich auch Frau Hildegunt Schütt und Herrn Pommerin kennengelernt. Und da wusste ich, dass die auch vorhatten, für Angehörige einen Verband zu gründen.

Ich: Wann war das ungefähr?

Lorenz: Das müsste so zwischen 83 und 84 gewesen sein. Dann habe ich in einem dieser Mitteilungsblätter gelesen, dass in Hannover der Prof. Asmus Finzen war. Der Asmus Finzen hatte da eingeladen in Bezug auf Angehörige. Da hatte ich die Idee, ich fahr nach Hannover, die werden bestimmt wissen, wen du an der Bergstraße so ansprechen kannst. Ich bin also hingefahren. Es war sehr interessant. Und er hatte durchaus die Linie, die ich vorhatte, und ich  ab mich gemeldet und hab gefragt. Und da haben die gesagt, nee, die Veranstaltung wäre eigentlich gedacht, dass man Angehörige in Hannover zusammenkriegt.

Ich: Da gab es auch keine Verbände und nichts?

Frau Lorenz: Es fing gerade an.

Ich: Sie wollten also eine Angehörigengruppe gründen?

Frau Lorenz: Ja. Ich hatte von niemandem an der Bergstraße gehört. Da stand für mich fest: Ich mache das. Aber gerade auf dem Hintergrund der Zeit damals hatte ich das Gefühl: Lass bloß nicht merken, dass du ne psychisch kranke Mutter hattest, dass die in der Psychiatrie gestorben ist, das wird ein Nachteil sein. Man weiß ja nicht, wie was abgefärbt hat, nicht? Angehörige war gleich Ungehörige. Das war damals ein geflügeltes Wort.

Auf jeden Fall, ich wollte hier was machen. Aber durch diese starke Weisungsgebundenheit in der Klinik, die ich ja schon durchgemacht hatte und die ich voll akzeptiert hatte, ich dachte: „Anders kann man gar nicht helfen, wenn man nicht gesagt bekommt, was man tun muss.“ Da habe ich also gedacht, wenn schon Angehörigengruppe, wenn ich das nun als erste hier an der Bergstraße mache, dann muss ich unbedingt ne Supervision haben.

Ich habe eine Sozialarbeiterin oder Psychologin, die ging damals vom Philippshospital an eine relativ neu gegründete Fachhochschule, meines Wissens die evangelische Fachhochschule in Darmstadt, und da ist sie jetzt Alterspräsidentin, soweit ich weiß. Da hab ich die gefragt, ob sie Supervision geben würde. Da gibt es in Darmstadt so eine Beratungsstelle, die hatten auch Interesse, so was zu machen. Ich glaube, der dritte, das krieg ich jetzt nicht mehr zusammen, aber ich glaub, das war das Philippshospital, die hatten auch Interesse.

So weit verstreut war das, ein paar Leute in Riedstadt, Darmstadt, hier in Heppenheim, die sich dafür interessierten und es noch gar nicht gemacht hatten. Dann sind wir so alle Vierteljahr zusammengekommen, also immer meiner Erinnerung nach, die nicht sehr genau ist, und haben so erzählt, was wir in den Gruppen gehört hatten. Was für Probleme da waren.

Ich: Das waren also alles Vertreter von Angehörigen aus den Gruppen, die sich inzwischen gebildet hatten?

Lorenz: Ja. Ja. Das war sehr schwierig und auch sehr der Kritik unterworfen. Hetzen wir da etwa die Mütter und Väter auf gegen die Kliniken? So unter diesem Verdacht.

Da haben wir dann unsere Probleme vorgebracht und besprochen. Man hat dann ja recht bald gemerkt, dass die Probleme so apart nicht waren, sondern dass jeder mit irgendwas zu tun hatte. Z.B. die Schuldgefühle der Angehörigen, ein ganz großes Ding. Die enge Bindung. Dass man sich verantwortlich fühlte, also die Umkehr von den Schuldgefühlen: Bin ich nicht schuldig, so bin ich doch verantwortlich, usw.

Und ich wusste immer genau, dass das nötig war, dass das wichtig war und dass man es machen musste. Was ich da gelernt habe, gerade im Zusammenkommen mit den zwei anderen Gruppen, war, dass das eigentlich stinknormale Probleme waren. Nicht irgendwo so Sachen, wozu man ein Studium brauchte und Akademiker und Praxis und so. Quatsch.

Es war einfach Mitmenschlichkeit gefragt für mein Empfinden, nichts anderes, wirklich nichts anderes. Und die Möglichkeit, wirklich mal alles rauszulassen, was einen bedrückte, ganz gleich, welcher Art das nun war. Verdrängtes und Erlebnisse, Dinge, die man bereute, und Dinge, die strafbar waren, und und … Ganz wurscht. Da war immer das Motto: Was in die Gruppe hineingebracht wird, das darf nicht wieder hinauskommen.

Ich: Das war also vertraulich und hatte ganz stark den Charakter einer Selbsthilfegruppe?

Lorenz: Ja. Genau das. Es ging immer mehr auf die Selbsthilfegruppe.

Ich: Aber das war wahrscheinlich auch das, was am nötigsten war?

Lorenz: Ja, ja. Es kam mir eigentlich sehr zugute.

Ich: Wie wichtig sind Angehörigengruppen in Ihren Augen?

Lorenz: Sehr wichtig. Dass wir jetzt hier in Heppenheim im eigenen Saft kochen und nicht so recht vorwärts kommen, da ist mit ein Grund, dass wir keine Angehörigengruppe haben. Die Angehörigengruppe hat damals das Ganze mitgetragen. Entweder gibt es die Angehörigen, die alles verdrängen, die sagen: „Von dem will ich nichts mehr wissen.“ Oder die, die sich bekennen. Das waren Leute, die unentwegt kamen, die ehrlich waren, auch ihren Leuten gegenüber. Angehörige haben sehr viel Tragkraft.

Ich: Wie wichtig ist der Aspekt der Selbsthilfe bei der Angehörigenarbeit?

Lorenz: Enorm. Ich setze ja nur auf Selbsthilfe. Selbsthilfe ist mein Ah und Oh. Der Selbsthilfegedanke heißt auch: Ich sag immer, jeder ist für etwas brauchbar, man muss nur
rauskriegen, was es ist. lacht

Wissen Sie, viele Angehörige – und der Versuchung war ich nicht erlegen – fragen: Warum mir das? Was habe ich denn bloß verbrochen, dass ich mit so einem Sohn, so einer Tochter, mit so einem Ehegefährten gestraft bin? Wieso denn gerade ich? Ich tu doch keinem Menschen was. Ich tu doch das Rechte. Ich bemühe mich doch drum. Ich bin doch ein guter Staatsbürger. Ein guter Nachbar. Und das mir. Wie soll ich damit einig werden?

Das ist so die Grundlage der Verdrängung. Und psychische Krankheiten haben viel mit Verdrängung zu tun. Ich frag mich manchmal, wie das so wäre, wenn jeder sagen könnte: „Ach, da hatte ich mal ne Schizophrenie“, oder „Sie wissen ja, ich bin auf dem Gebiet anfällig. Ich neige zu Psychosen, und sagen Sie mir, ob ich da die Wirklichkeit verkenne?“ Wie wäre das, wenn man so ganz locker damit umginge? Ich denke, dass es geradezu eine Art von Auszeichnung sein könnte. Man könnte sagen, dieser Mensch ist sensibel, weil er das schwere Schicksal einer psychischen Erkrankung gehabt hat.

Bei den Angehörigengruppen war mir dann einfach wichtig, wenn ich nun so immerzu hörte: „Mein Sohn macht das, meine Tochter macht das, oh wie schrecklich, ich hab doch gepredigt, und er tut nichts.“ Da konnte ich die Leute entwaffnen, das war so meine Standardfrage: „Ja, jetzt wissen wir, wie’s dem Sohn geht, aber wie geht’s denn Ihnen?“ Das hat die Leute erst mal verblüfft. Dass wirklich jemand nach ihnen fragte. Und dass ich auch wirklich nicht zuließ, dass sie abwichen. „Jaaa, dadurch, dass es meinem Sohn so schlecht geht, was glauben Sie, wie schlecht’s mir erst geht.“ – „Nein! Wie geht’s denn Ihnen? Was wünschen Sie sich denn? Was möchten Sie denn? Was würden Sie denn ohne den tun ?“

Das war ein völlig neues Gebiet. Und damit bin ich gut vorwärtsgekommen. Ich erinnere mich dran, dass ich gesagt hab: „Das geht nicht, dass Sie sagen: Meinem Sohn geht’s schlecht, und dann geht’s mir auch schlecht“ usw. Und dann haben so ganz Pfiffige gesagt: „Ja, aber wenn’s nun meinem Angehörigen gut geht, da darf ich mich doch wenigstens freuen?“ Genau das war’s. Ganz gleich, ob gut oder ob schlecht! Ich kann mich nicht nur definieren durch mein Kind. Denn meistens sind es ja Kinder und Ehepartner.

Ja, und dann wurde das eine blühende Bewegung. Und das Komische war, das ist auch so eine Erfahrung, die mit mir dann wahrscheinlich stirbt, alles, was wir gemacht haben, Tanzen, z.B. da gibt‘ s Bewegungstherapie, Basteln, da gibt‘ s Beschäftigungstherapie, Angehörigengruppe, selbst Angehörigengruppe macht jetzt die Klinik. Die Klinik hier hat jetzt ein zweites Areal. Das ist alles nur für solche Sachen. Das ist beinahe ein ganzes Dorf. Ein großer Komplex hat sich da gebildet mit den Sachen, die wir gemacht haben. Also alles, was wir gemacht haben, dafür wurden mit der Zeit ausgebildete Kräfte eingestellt.

Ich: Machten die das denn als Alibifunktion oder wirklich mit Engagement in den Kliniken?

Lorenz: Ich würde sagen mit Engagement – und mit Fachkenntnissen. Da gibt es ja auch etwas zu lernen, ne? Also, wenn ich jetzt z.B. in die Klinik gehe, da sind die Flure und Warteräume mit tollen Gemälden, teilweise mannshoch, ausgestattet. Das hätten wir in unseren kleinen Gruppen nie zustande gebracht. Wir hätten das Material nicht gehabt. Wir hätten nicht gewusst, wie man das auftragen soll und so.

Ich: Haben Sie sich irgendwann kurzgeschlossen?

Lorenz: Überhaupt nicht. Die Fachleute, entweder wussten sie gar nicht, dass wir da waren, oder wenn, dann, na ja: Also da haben die Helfer was gemacht, jetzt kommen wir und sagen mal, wo‘ s lang geht.

Und plötzlich, ich traute meinen Augen nicht, gab es mindestens eine Angehörigengruppe in der Klinik, wo allein drei Fachleute dabeisaßen: ein Psychologe, ein Theologe und ich weiß nicht was. Und ich hab dann auch ein-, zweimal gebeten, ob ich auch dabei sein könnte, und dann hab ich das auch gemacht. Und dann gab’s da so eine Anfrage: „Also Frau Dr. Sowieso, ich mache das so und das so, meinen Sie, das ist richtig so? Könnt ich das noch anders machen?“ Und dann wurde sehr wohlwollend gesagt: „Ja, hören Sie, ist schon richtig der Ansatz, aber machen Sie’s doch mehr so.“ Das war genau das, was ich nicht gewollt hatte. Verstehen Sie? Ich wollte das Menschliche herausheben. Ich wollte, dass, wenn Fehler gemacht werden, die Leute dann nicht schlaflose Nächte verbringen und Schuldgefühle hatten, sondern dass die sich sagten: Ich hab etwas tun wollen, vielleicht kann ich‘ s noch irgendwie verfeinern, oder noch richtiger machen.

Ich: Das war so von oben nach unten, der Fachmann von oben auf die Angehörigen unten?

Lorenz: Man wurde sofort zum Kind. Zum weisungsgebundenen Kind. Also die eigene Kompetenz war in keiner Weise gefragt. Das war immer schwierig in der Klinik. Sie hielten z.B. vielleicht eine Vortragsreihe, das konnte man. Aber die besprechen und gar ins Einzelne gehen, da brauchte man eine Fachkraft. Sie könnten ja alles verderben. Also, ich würde das erste Mal noch hören, dass ich vielleicht eingeladen und gefragt würde: „Frau Lorenz, wie war’s denn früher?“

Wir haben am meisten Probleme gehabt mit den unteren in der Klinikhierarchie, den Schwestern und Pflegern. Weil die auch am meisten betroffen waren. Die dann sagten: „Also wenn Sie da waren, dann sind die Kranken nicht mehr zu bändigen und nicht mehr ins Bett zu bringen. Dann kennen wir unsere Leute nicht mehr wieder.“

Ich: Das war quasi eine Schuldzuweisung?

Lorenz: Ja natürlich. Wir waren unbequem, nicht?

Ich: Also Querulanten?

Lorenz: Nein, nein. Einfach Erschwernis. Ich weiß es nicht. Ich hab ja vier Kinder. Ich wollte natürlich auch meinen bestimmten Tagesablauf haben. Und wo wär’s denn hingekommen, wenn wir da jedes Mal darüber diskutiert hätten, ob man ins Bett geht zu einer bestimmten Zeit oder nicht? Das sind eben immer diese zwei Dinge: dieses Trägheitsprinzip, ganz einfach vorgegebene Bahnen. Und dieses: Da kommt einer und besiegt das.

Ich: Was hat zur Gründung des Bundesverbandes der Angehörigen geführt?

Lorenz: Dann müsste man zuerst mal wissen, wann das war.

Ich: 1985 war die Gründung.

Frau Lorenz: Der andere, der Dachverband für Psychosoziale Hilfsvereine, der ist vorher gegründet, der war zuerst.

Ich: Wie kam es zur Gründung des Bundesverbandes? Wer unterstützte es, was waren so die Vorläufer?

Frau Lorenz: Was ich weiß, ist, dass es wohl vorher schon so verschiedene Verbände gab. Ja. Es gab da einen sehr rührigen in Stuttgart.

Ich: War das für Sie überhaupt ein wichtiger Punkt mit dem Bundesverband?

Lorenz: Ja. Ja. Es war sehr anregend. Dass Helfer sich zusammenschließen konnten und sozusagen eine Macht waren, also etwas, worauf man hörte. Ich kannte auch den Sozialarbeiter, der das zuerst gegründet hat, aber der Name? Ja und dann kam die Frau Schöck. Ja, die Inge Schöck, die sitzt auch in Stuttgart. Zusammen mit ihrem Mann. Die studierten damals in Tübingen und hatten einen Verein gegründet, der hieß „Die Klinke“.

Ich: Und das war für Sie schon wichtig mit dem Bundesverband?

Lorenz: Ja. Wissen Sie, weil, was ich in der Klinik kennengelernt habe, das war eine autoritäre Angelegenheit. Da waren die Fachleute, die es wussten. Die sagten, was krank und gesund ist, was wir machen und was wir lassen sollten und die uns auch in Schutz nahmen andern gegenüber. Wir hatten so richtig eine Kinderfunktion. Die man behütet. Da merkte ich, z.B. „Die Klinke“, das waren Studenten, die machten das unter sich aus. Gleichberechtigt.

Ich: Für mich ist eher wichtig, was das für Sie für eine Bedeutung hatte mit der Gründung?

Lorenz: Da ging mir einfach das Herz auf. Das waren gleichberechtigte Leute, die einen verstanden.

Ich: Waren Sie da auch mal aktiv gewesen?

Lorenz: Nein. Wissen Sie, vier Kinder, ein Mann, der das immerhin wohlwollend, aber doch recht kritisch sah. Immer wenn hier das Essen angebrannt war: „Ach, du bist wieder mit den Gedanken in der Psychiatrie.“

Ich: Welche Widerstände gab es gegen die Angehörigenbewegung und insbesondere von welcher Seite? Damals in den Anfangszeiten Ihrer Angehörigenarbeit?

Lorenz: In den Anfängen gab es gar keine Widerstände. Es gab eher Ängste zu überwinden. Kann man das machen als Nichtfachkraft? Muss man, wie ich dachte, Supervision haben?

Ich: Also die Ängste von den Angehörigen selber?

Lorenz: Ja, auch von mir. Also ich fühlte mich damals ja nicht als Angehörige. Dass ich die Mutter hatte, das war ja schon lange her gewesen, da schon 20 Jahre.

Ich: Also Sie fühlten sich nicht als Angehörige?

Lorenz: Nein, nein, keine Minute. Nein, nein, das war nicht meine Motivation. Meine Motivation war einfach leidende Menschen. Angehörige sind leidende Menschen. Auch heute noch. Auch ich. Aber ich bin immer ein wehrhafter Mensch geblieben.

Ich: Da gab es also keine Widerstände?

Lorenz: Nein.

Ich: Auch nicht von der Psychiatrie, von den Ärzten?

Lorenz: Also wenn, dann hab ich sie nicht wahrgenommen.

Ich: Oder von der Politik oder der Öffentlichkeit?

Lorenz: Auch nicht. Nein, für mich war es einfach ein freies Feld. Es gibt doch diese Frau Holle, glaub ich. Die kommen da vorbei an dem Backofen, da wo das Brot drin ist, und das schreit immer: „Holt mich raus.“ So war das. Lachen

Ich: Das ist ein schönes Bild. Da war einfach was zu tun?

Lorenz: Ja. Krempelt die Ärmel hoch und packt’s an. Ich hab ja auch den Landesehrenbrief dafür gekriegt, also so unbesehen war’s nicht.

Ich: Was war denn damals Ihrer Arbeit dienlich?

Lorenz: Sehr dienlich ist gewesen, dass ich religiös war. Damit hab ich am meisten, plus und minus, zu tun gehabt, mit der Kirche. Ich kannte ja Heppenheim aus der Kinderzeit von der Odenwaldschule her. Und ich hatte gedacht, nie wieder Odenwaldschule, wo ich so schlecht behandelt worden bin. Da hieß z.B. so ein Sprüchlein: „Heppenheim-Süd mach die Tore auf, die Fridburg kommt im Dauerlauf, Gummizelle Numero acht, ist für sie bereit gemacht.“

Was mir auch genützt hat, war die Verwandtschaft mit einem Pfarrer. Ich als Cousine von dem Paul, den wir auch duzten. Die Kinder haben immer gedacht, Paul und der liebe Gott, das sind eins. Aber ich meine, das hat mir natürlich Ansehen verschafft. Wer ist denn schon mit dem Pfarrer auf Du?

Ich: In den 70er Jahren hat ja die Reformbewegung angefangen. Wie war das?

Lorenz: Ich würde sagen, Anfang der 70er Jahre schon. 69 haben wir in der Psychiatrie angefangen, die Helfer, und da waren wir nicht die ersten. Schon zwei Jahre vorher, also 1967, gab’s schon Leute, die sich da aufgemacht hatten.

Ich: War das in der Öffentlichkeit bekannt in den 70er Jahren?

Lorenz: Ich überlege gerade, wie weit das in der Öffentlichkeit bekannt war. Ich hab immer gedacht am Anfang, dass ich den Kindern was zumute. Dass die irgendwie sagen, ihr spinnt ja alle, ihr geht ja in die Psychiatrie. Und dass ist eigentlich nie, also die Antwort von unten, das ist so ein religiöser Begriff, die Antwort von unten habe ich da nie bekommen.

Ich: War das Klima günstig, dass sich ein Bundesverband gründen konnte?

Lorenz: Das war absolut günstig. Es war irgendwie zwingend. Es musste darauf hinaus laufen. Ja, so hab ich das erlebt.

Ich: Mit welchen Zielen hatte sich der Bundesverband der Angehörigen auf den Weg gemacht? Was denken Sie, was so die wichtigsten Ziele waren?

Lorenz: Meine subjektive Erinnerung ist die, dass es eigentlich so bisschen Klageweiber waren, die sich da zusammengefunden hatten. Ach, uns geht‘ s so schlecht, und keiner achtet uns. Das war so die Grundtendenz. Dieses „Vereint sind wir stärker“ das gab es bestimmt. Die Tagungen des Bundesverbandes für Angehörige habe ich nicht so oft besucht. Da war ich damals einfach schon zu selbständig.

Der Dachverband Psychosoziale Hilfsvereinigungen, aus dem sie ja entstanden sind, der war für mich wichtiger. Also ich würde sagen – und ich kenn die ja alle – also, ich war um eine Nasenlänge voraus. Ich will damit nicht sagen, dass ich hochmütig war oder so was. Was krabbeln die da unten rum mit ihren Problemen, nein, nein, das nicht. Aber dieses „sich die Wunden lecken“, das ist etwas, was mir nicht so gelegen hat. Ich hab das immer versucht umzusetzen. In die Tat. Und das hat mir da gefehlt. Ich bin ja auch nicht eingetreten in den Bundesverband.

Ich: Wie verhielten sich die in der Psychiatrie Tätigen damals, Ärzte, Pfleger, in Bezug auf die Angehörigen?

Lorenz: Autoritär. Vor allem autoritär. Und skeptisch. Sehr skeptisch. Ich dachte, dass ich eigentlich sehr wenig darüber gesprochen habe, dass meine Mutter in der Psychiatrie war, und war ganz erstaunt, als ich auf Station kam, ein alter Pfleger, der mich mit Namen ansprach und sagte: „Ja, ja, Ihre Mutter war ja auch krank.“ Da dachte ich: „Mensch, da hast du mehr rausgelassen, als du wolltest.“ Das war so ein heikler Punkt.

Ich: Das versteh ich nicht so ganz.

Lorenz: So eine Art von Vertraulichkeit. Das geht ja immer wieder um die Erblichkeit der Dinge. Also, wenn man weiß, die Großmutter war psychisch krank, der Enkel ist jetzt in der Klinik, dann ist das eine schizophrene Familie. Und ich denke immer noch, dass mein Sohn gesund werden wird. Verstehen Sie? Und wenn es erblich ist, dann sind’s die Gene. Können Sie mir da folgen?

Und wir haben einen Begriff noch gar nicht erwähnt. Das ist der Begriff der Vulnerabilität. Mein Verständnis von Vulnerabilität ist eine gewisse Empfindlichkeit, Sensibilität, auf der Verletzungen möglich sind, die zu einer psychischen Krankheit führen.

Also, ich vermute mal, das ist eine gewagte Konstruktion, dass jeder sozial Berufliche Vulnerabilität besitzt. Na ja, wenn Sie dann den Bogen ziehen, dass Sie psychisch krank werden  können, das ist dann gefährlich.

Ich: Aber gut, das kann doch jeder Mensch.

Lorenz: Ja. Ja. Gewaltig. Da stimme ich völlig mit Ihnen überein. Ich habe gerade im Clinch mit einer Gruppe gelegen, in die ich da eingetreten bin, die heißt „Lernwerkstatt 55″, fand ich sehr hübsch, die wollen sich im Klub nicht mehr treffen. Da habe ich ihnen angeboten, sie können sich kostenlos treffen, kostenlos. Aber sie wollen sich da nicht treffen, weil sie mit psychisch Kranken verwechselt werden könnten.

Da denk ich: „Mensch, das mir jetzt. Am Ende meiner Tage, wo ich so gekämpft habe.“ Das ist eine Beleidigung für mich. Die verstehen das nicht. Die haben extra eine Abgeordnete geschickt, die mir erklären sollte, kein Mensch wollte mich verletzen, man wollte mich nicht kränken. So ist es.

Ich: Welches Verständnis gab es damals in der Öffentlichkeit in Bezug auf psychische Erkrankungen?

Lorenz: Das war ganz klar etwas, was man verdrängen musste. Das durfte man keinem sagen. Das war ein Hinderungsgrund, einen einzustellen, also im Lebenslauf durfte das niemals auftauchen.

Ich: Wo konnten sich Angehörige und Betroffene damals Hilfe holen? Wer hatte ein offenes Ohr?

Lorenz: Ein Pfarrer war verpflichtet. sonst kommt nichts

Ich: Gab es damals schon Ansätze irgendeiner Art von Reformpsychiatrie?

Lorenz: Ja, ja. Ich würde schon sagen, das, was meine Mutter erlebt hat, das war auch schon ein Stück Reformpsychiatrie. In jeder Weise. Einmal in Christofsbad, ich kenne also niemanden, der einem gerade aufgenommenen Patienten erlaubt, in die öffentliche Bücherei zu gehen. Ein Patient, der andernfalls im umgitterten Kreis herumgegangen ist. Zwischen diesen beiden Alternativen. Das war ein Stück Reformpsychiatrie. Und dann würde ich sagen, dieser Urgroßonkel von mir, ich hab mit der Klinik auch mal Kontakt aufgenommen, die existiert wohl noch im Rheinland, das war auch einer.

Ich: Gab es das denn, ich sag mal, in großem Stil? Das ist ein blöder Ausdruck.

Lorenz: Nein. Ich kann es ganz genau sagen. Das gab es für betuchte Leute. Da gab es Sanatorien, die sich drauf einließen. Die das im kleinen Rahmen machten, familiär. Meistens ganze Familien. Die Frau des Arztes mit und so.

Ich: Aber nicht für die breite Masse?

Lorenz: Nein, das kostete Geld. Geld war ein Hinderungsgrund. Nein, das waren die Intellektuellen. Sie mussten schon eine Schicht haben, in der gewisse Freiheiten herrschten. Wo man auch gut zudecken konnte. Also, Sie mussten einen Namen haben. Sie mussten finanziell gesichert sein. Also sowohl Geld als eine Stellung haben, alles dieses.

Ich: Wie war Ihr Wissen über psychische Erkrankungen damals? Sie hatten ja schon einen Vorsprung durch die ganzen Psychiatriebesuche, alles, was Sie schon gemacht hatten?

Lorenz: Jaaa, ich hatte so zweierlei: Ich hatte eine Laienschiene, die war sehr ausgedehnt. Und ich hatte ja eine Fachleuteschiene dadurch, dass ich Kinderschwester war. Da war auch Pathologie, ich wusste, wie ein Gehirn aussieht und was für Funktionen es hat usw. Und von der Geschichte her hat es mich auch interessiert.

Ich: Sie wussten schon sehr viel. War das der Regelfall?

Lorenz: Nein. Auf keinen Fall.

Pause

Wissen Sie, ich möchte Ihnen etwas zu Helseekon erzählen. Ja. Wissen Sie, dass war einfach so: Als wir anfingen, fand ich die „Oase“ einen schönen Namen oder die „Insel“. Und immer hieß schon jemand so. Daraufhin hat sich mein Mann mal hingesetzt, also, der hat mir ganz rührend geholfen, und hat bei Worten, die wichtig waren, immer die Anfangsbuchstaben miteinander verbunden. Helseekon „Helfen in seelischen Konflikten“ gefiel uns am besten. Das hatte so was von Hellsehen.

Ich: Die Gründung des Klubs, wie ist die aufgenommen worden?

Lorenz: Sehr gut. Ja. Auch wenn ich die ersten zehn Jahre „Allein-Vorstand“ war. Ich kann auch niemandem empfehlen, Alleinvorstand zu machen. Ich war auch Allein-Putzfrau.

Aber der Klub ist sehr gut angenommen worden. Z.B. der Lionsclub, da waren Ärzte, die haben den Fußboden, Dielen, mit Rasierklingen abgeschabt. Das war mein Hausarzt, der Zahnarzt, der strich die Fenster, damals hatten wir noch so Gevierte, der sagte: „Ich als Zahnarzt komm besonders gut in die Ecken.“ So war das.

Ein kleiner Ort, der eignet sich dafür, wo die Integrität der Leute feststeht. Und Pater L. hat sich auch sofort bereit erklärt, die Miete zu bezahlen. Ich hab dann nach zwei Jahren gesagt: „Pater, das ist nicht mehr nötig, wir haben jetzt genug Geld zusammen. Wir können auf eigenen Füßen stehen.“

Helseekon ist immer ein lebendiges Gebilde gewesen, was „up und downs“ hat. Was vor allem auch sehr vom Vorsitzenden abhängt und auch letztlich von der Zeit, in der wir leben. Wenn auch jetzt nach meiner Wahrnehmung der Besuch sehr zurückgeht in Helseekon, dann hängt das auch damit zusammen, dass wir etwas erreicht haben. Dass die gemeindenahe Psychiatrie ein Begriff ist.

Das war noch kein Begriff, als ich anfing: Es gab keine Tagesstätte, keine Arbeitseinrichtung für psychisch Kranke. Es gab kein geschütztes Betreutes Wohnen. Es gab keinen
Sozialpsychiatrischen Dienst. Für alle diese Sachen haben wir gekämpft und uns eingesetzt.

Ich kam gerade so in diese Umbruchsphase und habe die voll genutzt. Das waren nicht Dinge, die ich mir ausdachte, sondern einfach Dinge, die am Wege lagen.

Ich: Das heißt doch, wenn ich Sie richtig verstehe, ursprünglich war Helseekon auch eine Sache der Angehörigen? Oder kann man das so nicht sagen?

Lorenz: Es war mir wichtiger zu unterscheiden, dass sozusagen normale – was immer Normalität ist – Gesunde da sein konnten, die in irgendeiner Weise einen Bezug zu psychisch Kranken hatten. Und das waren Angehörige. Und die gaben sich als Gesunde aus. Die betrachteten sich so. Und Belastete, die nicht nur kranke Anteile, sondern auch gesunde Anteile hatten. Das war wichtig für mich.

Und da war es mir eigentlich völlig egal, ob das nun Angehörige oder sonst was waren. Sehr oft ist es mir auch passiert, dass Leute kamen und haben irgendetwas vorgegeben. Also meinetwegen, sie würden sich für das Tanzen interessieren. Da kamen Leute, die nicht in erster Linie sagten: „Die und die Beweggründe habe ich, den und den Druck muss ich aushalten.“ Das alles nicht. Sondern meistens auf großen Umwegen.

Ich: Dann ist es wichtiger für Sie gewesen, dass man sich einmischt. Betroffene. Ob das nun Psychiatrie-Erfahrene sind oder Angehörige, wer auch immer?

Lorenz: Einmischt und sich auf etwas einlässt. Denn ich hatte nicht den Eindruck, dass es immer die Gerade-aus-Wege waren, die am erfolgversprechendsten waren, sondern das, was gerade am Wege lag.

Ich: Sie denken, der Besuch bei Helseekon ist nicht mehr so groß, weil es jetzt einfach viele Einrichtungen gibt, die Sie und andere Leute, die ähnlich aktiv waren wie Sie, mit auf den Weg gebracht haben? Die Vorschläge, die Ideen. Sie haben das quasi vorgelebt, und die anderen haben das aufgegriffen?

Lorenz: Ja. Z.B. Vortrags- und Ausspracheabende. Und da sind oft die dümmsten Fragen die ergiebigsten. Jetzt sehe ich, komischerweise, dass Leute, von denen ich es gar nicht vermutet hätte … Auch Vereine halten psychiatrische Vorträge. Jetzt gerade erlebe ich, dass eine evangelische  Pfarrei sich der Forensik annimmt. Das hat es früher nicht gegeben. Das hat man nicht riskiert. Oder man hat es einfach früher nicht gesehen.

Ich: Waren die Angehörigen ein wichtiger Baustein? Dass alles ins Rollen gekommen ist?

Lorenz: Ich möchte sagen, dass ich ohne Angehörige nichts hätte vollbringen können. Das denke ich schon. Aber das wurde nie so ausgesprochen. Weil die Angehörigen ja auch nicht sagten, ich komme hier in den Club, ich bin Angehörige. Sondern, die sagten, ich bin die und die und hab das und das gemacht. Das wurde ja versteckt.

Als Angehörige gehört eigentlich das Bekenntnis dazu. Und das muss einem klar sein, dass man sich zu etwas bekennen kann. Das war den Leuten nicht klar. Die hatten oft nicht den Mut, das zu bekennen. Es ist eine sehr heikle Sache, das Selbstbewusstsein der Angehörigen. Es ist wirklich heikel.

Was mir die ganzen Jahre geholfen hat, also, mein Vorteil war, dass ich immer Leute ansprechen konnte. Ich konnte die Dinge auf den Punkt bringen und Sympathie dafür einhandeln. Das erleichtert einem das Leben.

Ich: Sie sind zwar Angehörige, seit Geburt quasi, sag ich mal, sind es später noch einmal geworden, als Sie schon längst aktiv waren. Aber Sie haben das alles nicht unter dem Titel
„Angehörigenarbeit“ betrachtet. Habe ich das richtig verstanden?

Lorenz: Ja. Sie haben mich richtig verstanden, aber es ist ergänzungsbedürftig. Ich hatte immer den Eindruck, dass meine Eltern ganz ungewöhnliche Persönlichkeiten waren. Und davon habe ich niemand getroffen in der Angehörigengruppe, der nur einen ähnlichen Hintergrund gehabt hätte, verstehen Sie?

Und deswegen nutzte mir die Definition, dass ich von meiner Mutter her Angehörige war, wenig. Umso mehr, als ich mit der Diagnose nicht einverstanden bin. Wie gesagt, Borderline, nicht? Aber das kam erst in den 70er Jahren auf. Da war meine Mutter ja schon gestorben. Und dass meine Mutter so Ideen hatte, die sie aus der Völkerkunde hatte, so auch von Freud her, die ganze Psychologie, ich empfand das nicht als ungewöhnlich. Natürlich habe ich gemerkt, dass ich mit den Ideen meiner Mutter nicht landen konnte, dass kein Kind so was hatte. Es hatte auch kein Kind eine Kinderschwester gehabt in den Jahren. Es war also derart ungewöhnlich, zu der Zeit, wo ich aufgewachsen bin im Dritten Reich. Da bekannte sich auch keiner als Gegner von Hitler wie mein Vater, verstehen Sie?

Und um das alles nun mit der Psychiatrie in Zusammenhang zu bringen: Ich habe das nur als eine große Lebensbelastung angesehen, dass meine Mutter über ihre Kräfte gefordert war. Aber wie konnte man das vermitteln? Da schwieg man schon lieber drüber. Und bei der Angehörigengruppe, ich glaube nicht, dass ich aufgetreten bin als Angehörige, sondern aufgetreten bin als Helseekon, der Verein, der sich eben solcher Gruppen annahm.

Und das hat auch genügt. Als dann mein Sohn krank wurde, war auch eine einwandfreie Diagnose da, die ich auch nachvollziehen konnte. Die trösteten mich auch, die Angehörigen, und sagten: „Das ist nicht so schlimm, fassen Sie Mut, wir helfen.“ Da war es was anderes. Da konnte man gleichberechtigt agieren. Aber in Bezug auf meine Eltern, nein. Ich konnte ja auch keinem sagen, lies mal die Bücher meines Vaters, die Schriften. Die waren ja von den Nazis verboten, als ich Kind war. Auch meine Mutter hat ja einiges verfasst.

Ich: Was denken Sie, was haben Sie erreicht als Vertreterin der Angehörigenbewegung? Würden Sie das heute noch mal machen? Oder würden Sie etwas anders machen?

Lorenz: Also erreicht, da kam mir spontan in den Sinn: Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit hab ich erreicht. Ich konnte glaubwürdig sein. Und das war das Wichtigste. Was immer mir so in den Sinn kam, was immer ich dachte, das nötig wäre, ich war glaubwürdig.

Z.B. jetzt ist es so, das hab ich mir auch nicht gedacht am Ende meiner Tage, dass die Klinik sich überlegt, ob sie eine Forensik da anbauen. Und da interessiere ich mich und nehme an Veranstaltungen teil, ab und an gebe ich auch was von mir. Also z.B. sage ich, dass es nicht gut ist, wenn man so etwas, was so umstritten ist und moralisch so Erregung auslöst, an die Ländergrenze baut, weil dann zwei Länder betroffen sind. So was sage ich dann.

Ich: Und Sie werden dann als Frau Lorenz, aber auch als Vertreterin der Angehörigen wahrgenommen? Wie empfinden Sie das?

Lorenz: Nein, ich werde als eigene Persönlichkeit wahrgenommen. Ich werde auf dem Hintergrund von Helseekon wahrgenommen.

Ich: Würden Sie es noch mal so machen?

Lorenz: Sofort. Ich war einfach getrieben. Ich war irgendwie innerlich gezwungen, es zu machen. Wenn man mir sagen würde, was ich alles an Anfeindungen und Schwierigkeiten erlebt habe, dann würde ich mal tief Luft holen. Aber ich würde im Endeffekt doch sagen, ja, es war einfach ein Ruf. Eine Berufung.

Bei mir kommt ganz subjektiv eben noch dazu, dass ich immer das Gefühl habe, ich stehe auf den Schultern meiner Eltern. Wenn sie noch lebten, dann hätten sie gesagt: „Kind mach weiter, du bist unsere Tochter, du kannst das.“ Verstehen Sie? Und sollte ich nicht darauf gründen können?

Ich: Ich frag noch einmal nach, weil ich meine Arbeit darüber schreibe: Empfinden Sie sich denn als Vertreterin der Angehörigen?

Frau Lorenz: Es ist eine Facette. Ich denke, es war ein Anschub, Angehöriger zu sein. Ein Anstoß auf einem Weg in die Öffentlichkeit und zu mehr Menschlichkeit. Und wo das nicht war, da waren Angehörige auch oft penetrant. Ich hatte halt die Fähigkeit und das Bedürfnis, mich anderen zuzuwenden. Wäre das nicht gewesen, ja, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Eine Dichterin, eine Einsiedlerin? So irgendwas. Aber ich hatte eben die Neigung zu anderen Menschen. Von Kindheit an.

Eine Befragung von Zeitzeugen zu den Anfängen der Angehörigenbewegung

Sabine Hummitzsch (2002)

Diplomarbeit im Studiengang Sozialwesen an der Fachhochschule Wiesbaden

Im Prolog stellt und beantwortet die Autorin die Frage: Warum dieses Diplomthema?

Dinge geschehen nicht zufällig. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, trifft es nicht zu. Erdbeben bereiten sich vor; die Tiere merken es schon vor den Menschen. Unwetter brauen sich zusammen; ein Kind, das geboren wird, hat sein Leben schon vorher begonnen. Staaten entstehen, Regierungen wechseln, Wirtschaftszyklen nehmen ihren Lauf.

Vieles, was auf den ersten Blick zusammenhanglos erscheint, fügt sich beim genaueren Hinsehen zusammen. Aus vielen einzelnen Teilen kann ein Ganzes entstehen, aus Atomen ein Molekül, aus einzelnen Menschen eine Partei.

Und – so sagt man – ist das Ganze oft mehr als die Summe seiner Einzelteile.

Das hat mich bewegt in den vergangenen Jahren meines Studiums und bei der Suche nach meinem Diplomthema: Wo finde ich dieses spannende Phänomen? Wo ist das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile? Wo treffen sich die objektiv messbaren Fakten mit der Subjektivität der beteiligten Menschen? Wo entsteht etwas, das Einzelne anstießen, ohne es vielleicht zu bemerken? Dinge kommen ins Rollen, und die betroffenen Menschen bewegen sich unmerklich mit. Sie werden getrieben, gestalten aber auch gleichzeitig.

Später werde ich als Sozialpädagogin meinen beruflichen Weg gehen. Wo treffe ich Menschen, die Betroffene, Leidende, Handelnde und Gestaltende gleichermaßen in Personalunion sind? Die aus einer inneren Notwendigkeit aus ihrer Privatheit heraustreten und handeln?

Das hat mich beschäftigt und zu meinem Diplomthema geführt. Und es hat mich interessiert, vor welchem Hintergrund dies geschehen konnte. Denn eine Bewegung – gleich ob politisch, außerparlamentarisch, in der Kunst, sei dies Malerei oder Literatur – kann nur entstehen, wenn die Zeit dafür reif, der Boden vorbereitet ist. Ansonsten droht sie im Keim zu ersticken; einzelne Ansätze bleiben isoliert.

Herausgegeben von Matthias C. Angermeyer und Asmus Finzen (1984)

Das Buch erschien im Ferdinand Enke Verlag Stuttgart und ist nicht mehr verfügbar. Der Text wurde uns freundlicherweise vom Verlag zur Veröffentlichung überlassen.

Vorwort

Die Rückbesinnung auf die Selbsthilfe scheint zur sozialpolitischen Entdeckung dieses Jahrzehnts zu werden. Die Entdeckung der Angehörigen ist anscheinend von ähnlicher Bedeutung für die Psychiatrie der 80er Jahre. Angehörigenselbsthilfe und Angehörigengruppen vermitteln heute schon merkbare neue Impulse für eine wirksamere Behandlung vor allem der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Sie tragen dazu bei, das Leiden der Betroffenen – der Patienten und ihrer Familien – zu mildern und helfen ihnen, in erträglicher Weise mit den Auswirkungen der Krankheit zu leben. Zugleich leisten sie einen Beitrag, die Familie vom Stigma der persönlichen Schuld an der Krankheit zu befreien.

Wir haben den Versuch unternommen, den gegenwärtigen Stand der Selbsthilfe-Initiativen von Angehörigen psychisch Kranker sowie der Gruppenarbeit mit Angehörigen im deutschsprachigen und im internationalen Raum umfassend darzustellen. Wir wurden dazu durch eine Tagung der Akademie für Sozialmedizin Hannover e. V. angeregt, die im Juni 1982 unter Leitung von Matthias C Angermeyer stattfand. Ein Teil der hier abgedruckten Beiträge wurde damals vorgetragen. Die übrigen Arbeiten wurden – mit einer Ausnahme – für diesen Band geschrieben.

Wir als Herausgeber hoffen, dass es uns mit diesem Sammelband gelingt, Familien mit psychisch kranken Angehörigen auf dem Weg zur Selbsthilfe zu unterstützen und zu fördern und die Gruppenarbeit mit Angehörigen psychisch Kranker zu einem Alltagsereignis psychiatrischer Behandlung zu machen.

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